Robert Ryman – Laudatio anlässlich der Verleihung des Roswitha-Haftmann-Preises am 10. November 2005 im Kunsthaus Zürich

von Dr. Matthias Frehner, Direktor Kunstmuseum Bern

Die Beschäftigung mit dem Werk von Robert Ryman gehört für mich zum Anspruchsvollen in der Kunst der letzten fünfzig Jahre. Keiner der Grossen hat sich so beschränkt wie er. Aber wer hat auf dem Gebiet der Malerei so viele neue Erkenntnisse aufzuweisen? Robert Ryman, heute 75 Jahre alt, ist neben Andy Warhol und Gerhard Richter die dritte grosse Vorbildfigur der Malerei seit den sechziger Jahren. Warhol und Richter sind die Orientierungsgrössen im künstlerischen Umgang mit der sichtbaren Wirklichkeit, ihren gesellschaftlichen, politischen und historischen Referenzen sowie ihrer Umsetzung ins Bild unter Einbezug der Fotografie. Richter hat sich auch mit der zweiten Traditionslinie der Moderne intensiv befasst, mit der Abstraktion. In seinen «Abstrakten Bildern» und «Grossen Farbtafeln» erweiterte er die nicht auf die äussere Realität fixierte Malerei mit konzeptuellen Strategien. Der Gestik des abstrakten Expressionismus stellte Richter vollkommen neutrale Flächen oder bewegte Strukturfelder entgegen, die er nicht aus seinem subjektiven Empfinden, sondern konzeptuell aus den Grundmöglichkeiten der malerischen Gestaltung ableitete. Warhol und Richter brechen, erneuern und erweitern die Hauptstränge der realistischen und abstrakten Kunst des 20. Jahrhunderts.

Robert Ryman veränderte keine Traditionen, er beginnt vielmehr von vorn. Dabei dreht er das Rad nicht einfach zurück und macht alles Bisherige rückgängig. Nicht der theoretisch postulierte Nullpunkt, weder Zero noch Minimal art, wiesen ihm die Richtung. Ihm gelingt, das für einen Künstler Schwierigste: alles Vorwissen um Kunst nicht zu tilgen, sondern es lediglich beiseite zu schieben, um im Bewusstsein um das Andere unbeirrt einen völlig eigenen Weg zu beschreiten. Das Atemraubende seiner Kunst ist ihre Selbstverständlichkeit, ihre Natürlichkeit, ihre Spontaneität. Alles Doktrinäre, Demonstrative und Belehrende liegt ihr fern. Dass Ryman wie Cézanne ein Fixstern ist, wird bewusst, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele sich seither mit den von ihm aufgeworfenen Grundfragen befassen: Brice Marden, Helmuth Federle, Bernard Frize sind Schlüsselkünstler ihrer Zeit, die Ryman nicht wenig verdanken. Für die Entwicklung der «analytischen Malerei» wirkte Ryman für Heerscharen «schulbildend».

Es ist falsch und unstatthaft, angesichts von Rymans Malerei, Weiss als «stille» Farbe zu bezeichnen – weil seine Kunst für nichts steht ausser für sich selbst, was jede symbolische Deutung seines Schaffens ausschliesst. Nicht falsch ist jedoch die Aussage, Ryman selbst sei ein stiller Revolutionär. Wir stehen vor dem Paradox, dass dieser Künstler mit seinem Werk der extremen Beschränkung, die Malerei grundsätzlich erweitert und verändert hat wie nur ganz wenige. Als stillen Revolutionär bezeichne ich ihn, weil seiner radikal neuen Auffassung von Malerei kein Bildersturm voranging. Er kämpfte nicht gegen das Falsche, Überholte oder Reaktionäre. Er überzeugte nie jemanden von seinen Zielen, sondern gab lediglich Erklärungen ab, wenn Fragen in die richtige Richtung zielten. Aber Ryman verweigerte sich von seinem ersten Bild an gegenüber dem, was er als Sackgasse ansah. Es gibt von ihm keine Bilder, von denen er sich später hätte distanzieren müssen, also keine Rymans vor Ryman. Sein erstes Bild schon ist der Grundstein eines Oeuvres, dessen Entwicklung von Anbeginn an so absolut konsequent verlaufen ist, wie höchstens diejenige Cézannes oder Mondrians. Ryman hat keinen einzigen Widerspruch geschaffen, nichts Überflüssiges findet sich in seinem Oeuvre. Unter den vollendeten Werken gibt es keines, das man als zweitrangig oder qualitativ minderwertig bezeichnen müsste. Welcher Künstler kann da mithalten? Picasso nicht, wohl aber Cézanne und Mondrian, die ebenso kompromisslos ihren eigenen Weg beschritten.

Bei dieser Konsequenz drängt sich die Frage auf, ob Ryman ein Programmmaler mit einer klar fassbaren Theorie sei, die alles Folgende festlegt, wie dies bei den Datumsbilder On Kawaras oder den Zahlenfolgen von Roman Opalka der Fall ist. Die Frage ist mit Bestimmtheit zu verneinen. Ryman bezeichnet sich selbst als einen intuitiven Maler. Auch seine scheinbar analytisch-sachlichen Werke sind durchwegs von spontanen Neigungen geprägt, die ein strenges Vorgehen nach theoretischen Gesichtspunkten ausschliessen: «Ich arbeite eigentlich eher gefühlsmässig. Ich meine, ich mache die Dinge, indem ich meiner Intuition nachgebe, weil ich einfach das Gefühl habe, dass sie berechtig ist – viel mehr, als das ich sie im voraus zu rechtfertigen versuche. Um es noch deutlicher auszudrücken: Ich will sagen, dass ich wirklich nötig habe, dass das, was ich mache, mich selbst überrascht. Wenn meine Arbeit mich selbst überrascht, dann weiss ich, dass etwas daran ist.»

Ryman malt sei 50 Jahren weisse Bilder, die häufig als monochrom beschrieben worden sind, damit aber nur vage charakterisiert sind. Nicht nur weil er uns mit immer anderen Weisstönen konfrontiert, sondern auch weil die Materialität seiner Farbe ständig wechselt. Bald tritt sein Weiss pastos-bewegt, bald flächig-neutral in Erscheinung oder es ist über eine farbige Grundierung gesetzt, wodurch es je nachdem als «warm» oder «kalt» wahrgenommen wird. Der Verzicht auf das Quer- und Hochrechteck, die automatisch bestimmte Themen wie Porträt oder Landschaft oder aber eine bestimmte Lesart und kompositorische Dynamik suggerieren, fokussiert die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf das Bild an sich, auf seine Materialität, die einer illusionistischen Lesart entgegen läuft. So lässt er uns vor der Materialität seiner Werke immer aufs Neue zurückprallen.

Was wir sehen ist immer dasselbe: Weisse Farbe, pastos bis dünnflüssig, auf einen bestimmten Bildträger aufgetragen, auf ein Stück rohe Leinwand, ein Blatt Papier, eine Holzplatte, ein Fiberglas oder ein rostfreies Blech. Es gibt keine Kippeffekte, die das Gemalte illusionistisch in ein Stück Landschaft verwandeln wie beim Chinesen Qiu Sihua oder wie bei Rothko symbolisch in einen bestimmten geistigen Zustand transzendieren. Rymans Weigerung, mit seinem Werk auf etwas anderes zu verweisen, kann jedoch weder mit der Ablehnung handwerklich-individueller Gestaltung durch die Minimal art noch mit der Materialzelebration konzeptueller Strategien verglichen werden. Seine Kunst offenbart, dass der Verzicht auf jeden Verweischarakter tief greifende neue Erkenntnisse ermöglicht, auf die erstmals Maurice Denis 1890 in seiner berühmten Definition des Begriffs «Gemälde» verwiesen hat: «Sich ins Gedächtnis rufen: ein Bild ist – bevor es ein Schlachtross, eine nackte Frau oder irgendeine Anekdote darstellt – vor allen Dingen eine plane Fläche, die in einer bestimmten Ordnung mit Farben bedeckt ist.» Denis postulierte, nicht primär den gemalten Gegenstand wahrzunehmen, sondern die Peinture. Malerei, wie sie hier definiert wurde, misst sich nicht mehr primär an der Fähigkeit des Künstlers, reale oder surreale Wirklichkeit vorzutäuschen, sondern daran, ob er mit Farben und Formen eine autonome Bildwirklichkeit zu kreieren vermag. Im Verlauf der damit postulierten Abstraktion verlagerte sich das Interesse von der geschauten Wirklichkeit auf die farbliche und formale Eigengesetzmässigkeiten des Bildes. Aber selbst Malewitschs von jedem erzählerischem Inhalt befreitem «Weissen Quadrat auf weissem Grund», eignet als «Zeichen des Nichts» noch immer Verweischarakter. Phänomenologisch steht das «Weisse Quadrat» Ryman bereits sehr nahe. In Bezug auf die Absicht des Malers kommt ihm jedoch Kandinsky näher, der 1937 eine Malerei ohne Gegenstand postulierte: «Der Inhalt der Malerei ist Malerei … Ich will gerne anerkennen, dass der ‚Gegenstand’ für manchen Künstler eine Ausdrucksnotwendigkeit ist, wobei aber der Gegenstand nur eine Zugabe der Malerei bleibt. Der Folgenschluss ist also der, dass man den Gegenstand nicht für etwas Unumgängliches in der Malerei zu halten braucht. Er kann ebenso leicht störend wirken, wie es zum Beispiel für mich in meiner Malerei der Fall ist.»

Kandinskys Satz «Der Inhalt der Malerei ist Malerei» – ist im Wesentlichen identisch mit Rymans Diktum «Es geht nie darum, was man malt, sondern immer nur, wie man malt. Das Wie des Malens ist es, was schliesslich das Bild – das ‚Erzeugnis’ – ausmacht». Im Unterschied zu den abstrakten Expressionisten, die die Farbe von jeglicher formalen Bindung loslösten, wie auch zur Post Painterly Abstraction, die die Bildfläche zum Farbraum transponierte, ist Ryman kein Ideologe. Seine «Überzeugungen sind», schrieb Naomi Spector 1977, «aus der Erfahrung des Bilder-Malens entstanden und nicht umgekehrt. Er befasst sich nicht mit Möglichkeitsformen, mit vorprogrammierten Resultaten, mit Theorien. Für ihn besteht der Angelpunkt der Kunst im Machen selbst.» Die Malerei war nie so frei und ungebunden, so spielerisch und spontan wie sie es in ihrer Neuinterpretation durch Rymann wurde. «Seine Bilder sind», wie die zweite wichtige Ryman Spezialistin, Christel Sauer, festgehalten hat: «so banal das klingt, was sie zu sein scheinen: Gemälde, die auf nichts ausserhalb ihrer eigenen Komponenten verweisen. Die allerdings sind von überraschendem Reichtum.»

Wenden wir uns diesem Neuland der Kunst zu, was mit Reproduktionen bei diesen subtilen Weissmalereien nur ansatzweise gelingen kann. Allerdings sind wir in der Schweiz in der glücklichen Lage, in den Hallen für Neue Kunst in Schaffhausen eine vom Künstler selbst mitgestaltete Dauerpräsentation seiner Werke sehen zu können, die neben seiner Präsenz in der Dia Art Foundation in Beacon seinen international bedeutendsten Werkblock überhaupt umfasst. Beide Ausstellungsorte befinden sich in umgenutzten Industriehallen, deren nüchterne Betonarchitektur seinem Werk ein ideales Ambiente bietet.

Die Schweiz kann das Verdienst beanspruchen, Ryman früh erkannt zu haben. 1969 integrierte ihn Harald Szeemann in die legendäre «Attitude»-Ausstellung in der Berner Kunsthalle, 1975 lud ihn Carlo Huber in die Kunsthalle Basel ein, wo er eine grandiose Installation seiner Bilder inszenierte, und 1980 fand die erste umfassende Retrospektive in der InK – Halle für internationale neue Kunst – in Zürich statt, für die Urs Raussmüller, der grosse Freund und Vermittler des Künstlers, verantwortlich zeichnete. Dieser Ausstellungspräsenz steht leider in unserem Land keine adäquate öffentliche Sammlertätigkeit gegenüber.

Ryman hat keine Ausbildung zum Maler durchlaufen, er ist Autodidakt. Aufgewachsen in Tennessee, kam er nach seiner Militärzeit 1952 als 22-Jähriger mit seinem Tenorsaxofon nach New York, um Musik zu studieren: «Bilder habe ich nie gesehen, bevor ich nach New York kam. Abgesehen von Blumenbildern – aber nie etwas annähernd Gutes. Es war nichts vorhanden. Ich bin durch nichts angeregt worden.» Ryman hält sich in New York mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Am 30. Juni 1953 fängt er eine Beschäftigung als Ferienaushilfe im Museum of Modern Art an. Sieben Jahre ist er dort im Aufsichtsdienst tätig. Auch andere, später berühmt gewordene Künstler verdienen ihr Geld wie er im MoMA: Al Held, Dan Flavin, Sol LeWitt. Wohl inspiriert durch die Tätigkeit im Museum beginnt Rymann selber zu malen: «1953, ein Jahr nach meiner Ankunft in New York, habe ich mir ein paar Tuben Farbe, etwas Leinwand, ein paar Pinsel und Terpentin gekauft, und dann habe ich einfach ein wenig damit herumgespielt, um zu sehen, wie das ist, wenn man mit einem Pinsel voll Farbe über die Leinwand streicht.»

1955 malt er ein monochrom orangefarbenes Gemälde, das er selber als sein erstes professionelles Bild bezeichnet – «Untitled (Orange Painting)»: «Im MoMA habe ich ein paar Maler kennen gelernt, wie Bill Scharf. Ihn habe ich gefragt, wie man eine Leinwand spannt. Das hat er mir dann gezeigt, aber das meiste haben ich selber herausgefunden….Zuvor hatte ich ja bloss experimentiert. Aber jetzt wusste ich endlich, wie man ungefähr mit Farbe umgehen muss. Damals war ich auch mit dem eigentlichen Problem konfrontiert. Es ging darum, ein Bild zu malen, ohne eine Geschichte zu erzählen.» Dieses Bild ist das einzige, in dem die Farbe Weiss nicht vorkommt. Es ist einschliesslich der Seiten in kräftigem, pastosem Orange gemalt, in das oben kleinere hellere und dunklere Rechtecke eingeschoben sind. Mit dem quadratischen Format, der Bemalung der Seitenflächen, die den Objektcharakter des Bildes betonen, wie auch dem ausgesprochenen Eigenleben der Farben auf der Fläche ist die Stossrichtung des zukünftigen Oeuvre vorgegeben. Bereits wird offensichtlich, dass es dem Künstler nicht um dekorative Reize geht: weder zelebriert er virtuose Pinselgestik wie die abstrakten Expressionisten, noch flächig-beruhigte Farbtransparenz, die sich wie bei Rothko als Tiefenräumlichkeit entfaltet. Was wir sehen, ist mit Maurice Denis zu reden tatsächlich, eine «Oberfläche bedeckt mit Farben», wobei die kompositorische Ordnung auf ein absolutes Minimum reduziert ist. Was man spürt, ist eine ungeheure Individualität und Eigenständigkeit. Die Farbe ist von allen Zwängen befreit. Es ist, als hätte Ryman für dieses Bild die Farbe Orange überhaupt erst erfunden, so weit lässt es jedes andere in Orange gemalte Bild hinter sich.

Auch die immer ausschliesslichere Verwendung von Weiss, auf die er sich bereits ab seinem zweiten Bild einliess, hat es so vor ihm nicht gegeben. «Nur Weiss» ist bei Ryman aber nicht wie bei Piero Manzoni mit der Aussage «keine Farbe» gleichsetzbar. Wäre dem so, wäre sein Weiss ebenso eine Botschaft wie bei Manzoni, der seine «achromen» Bilder als «Flächen der Freiheit» deklarierte. Weiss steht bei Manzoni für Farblosigkeit und absolute Neutralität ohne Bezug zu irgendwelchen malerischen Phänomenen. Ryman geht es dagegen um die Neudefinition von Malerei. Um grösstmögliche Klarheit bemüht, beschränkt er sich auf das Grundlegende. Seine Aussagen zielen auf die Malerei insgesamt: Wenn man mit Weiss bereits alles sagen kann, dann braucht es die anderen Farben nicht, könnte man Rymans Credo umschreiben. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, Weiss sei bloss eine Farbe. Auf Phyllis Tuchmans Frage: «Machen sie weisse Bilder?» antwortete Ryman entsprechend mit einem klaren Nein. «Das Weiss ergab sich so, weil es eine Farbe (paint) ist, die nicht störend wirkt. Ich könnte auch grün, rot, gelb nehmen, aber wozu? Für mich bedeutet es eine Herausforderung, Farbe zu benützen, um damit etwas geschehen zu lassen – ohne mich mit Rots, Grüns und all dem herumschlagen zu müssen, was die Dinge durcheinander bringt. Aber ich arbeite die ganze Zeit mit Farbe (color). Ich sehe mich nicht als jemand, der weisse Bilder (painting = Gemälde) macht, ich mache Bilder; ich bin Maler. Weise Farbe ist mein Medium…». Was aus dieser Äusserung abzuleiten ist: Rymans Entscheidung für das Weiss ist kein Bekenntnis zu all den kulturellen, soziokulturellen und symbolischen Bedeutungen, die dieser Farbe eigen sind. Genauso absurd wäre es, die Graphik Rembrands auf die Symbolik der Farbe Schwarz zu reduzieren. Die Druckerschwärze, mit der die Platte eingefärbt wird, ist lediglich das Medium und nicht bereits die Botschaft. Die Differenzierungsmöglichkeit liegt bei beiden, trotz vollkommen anderer Techniken und künstlerischer Absichten, in der Intensität, mit der die jeweilige Farbe eingesetzt wurde.

Bereits die frühe Gouache «Untiteld» von 1957 weist fast das ganze Vokabular, das für Rymans Kunst seither grundlegend geworden ist, auf: Das Quadrat-Format, das er nie sklavisch abmisst, sondern intuitiv festlegt; die Verwendung von Weiss, das in Zukunft meist so aufgetragen wird, dass der Pinsel Spuren respektive Strukturen hinterlässt. Dann der Einbezug des Bildträgers durch unbemalte Partien; die Verwendung der Künstlersignatur als Bildelement sowie die für das Frühwerk typischen zusätzlichen Rechteck- und Quadratformen in anderen Farben. Was wir auf diesem kleinformatigen Bild sehen, ist alles «konkret»: das unbemalte Papier an den Bildrändern, schwarze Rechtecke in einer bestimmten Ordnung, unregelmässig aufgetragene weisse Farbe, die als Materie in Erscheinung tritt. Ein Merkmal der Farbstriche sind ihre seitlichen Gräte, die durch den Pinseldruck entstanden sind. Wie die Fundamente einer römischen Villa aus der Luft sichtbar werden, zeichnen sich rechts unter der Maloberfläche Grossbuchstaben ab, die die Künstlersignatur wiedergeben. Ein Archäologe zieht Schlüsse aus Materialen, Schichtungen, Verfärbungen, und Verwerfungen. Genau diese Form der Analyse fordert die Materialität von Rymans Bildern. Zu wissen, woraus das Bild besteht und wie es gemacht ist, ist das Gegenteil einer Sehweise, die das Dargestellte als Katalysator auffasst, durch den sich verborgene Inhalte offenbaren. Unmöglich, dass man Rymans Bilder als «Fenster» oder Schleier auffasst, durch die man in Geistesräume entschwebt. Seine Bilder, selbst die späteren hauchzarten Feinmalereien, lassen nie den Eindruck von Immaterialität aufkommen. Ihre Materialität ist eine Tatsache. Ryman verbirgt nicht, er legt offen, seine Bilder sind Objekte.

Weisse Farbe, die Künstlersignatur und kleine aufgesetzte und unterlegte Farbfelder als formales Element, sowie der Einbezug des rohen Trägermaterials konstituieren das Werk bis 1960. Die Farbfelder und die Künstlersignaturen, die die ganze Bildbreite beanspruchen oder als Kolonne untereinander geschrieben erscheinen, erfüllen die gleiche kompositorische Funktion. Als weiteres Element kommt bisweilen die Jahreszahl der Datierung hinzu. Ryman verwendet zu dieser Zeit auch noch andere Farben: Rot, Grün, Blau und Gelb. Er beginnt mit diesen Farben, setzt sie als bewegte Striche auf das Papier oder die Leinwand, um sie schliesslich mit Weiss fast ganz zu überlagern. Wie Schnee überzieht das Weiss die Farbe. Das Bild zeigt jedoch nie eine sanfte Überdeckung, sondern gibt die Verwehungen nach einem Sturm wieder, der Felskanten freilegt.

Die Jahre zwischen 1957 und 1962 sind für die malerische Entwicklung enorm fruchtbar. Ryman schuf eine Grosszahl von Arbeiten in einer Vielzahl von Weisstönen auf unterschiedlichsten Bildträger. Ebenso gross ist die Variationsbreite des Farbauftrags. «Das Grundproblem ist: was macht man mit der Farbe. Das, was mit der Farbe gemacht wird, ist die Essenz alles Malens.» Das Bild «Untitled» von 1958 ist ein Beispiel dieser malerischen Recherchen. Das Weiss überzieht als dichte, zusammenhängende «all-over»-Struktur die Trägerleinwand. Die Gräte, die der mit Druck aufgesetzte Pinsel an den Rändern des Farbstrichs aufwirft, treten als materialisierte Linien in Erscheinung, womit der Reliefcharakter des Bildes unterstrichen wird. Die Jahrzahl «58», die auf ein Stück roh belassene Leinwand gesetzt ist, betont ebenfalls die faktische Realität der Bildkomponenten. Dieses Bild ist grosse Kunst, weil es innovativ ist – so hat niemand vor Ryman Farbe auf eine Leinwand gesetzt, und weil es eine neue Art der Betrachtung erfordert. Das Bild ist selbstreferenziell. Die Dichte des Farbauftrages bestimmt, wie das Licht von der Bildoberfläche reflektiert oder aber von ihr absorbiert wird. Es gibt in Rymans Malerei kein innerbildliches Leuchten wie bei Rothko. Licht wird hier nicht dargestellt, sondern trifft vielmehr von aussen auf das Bild und wird von dessen physischen Beschaffenheit gelenkt. Genauso ergeht es dem Betrachter, auch er wird auf die physische Tatsachlichkeit der Bildelemente verwiesen. Ryman spricht deshalb von Realismus. «Beim Realismus gibt es kein (Ab)-Bild. Die Ästhetik ist nicht nach innen gerichtet. Und es gibt auch keinen Mythos. Vor allem aber gibt es keine Illusion. Die Linien sind real, der Raum ist real, die Fläche ist real, und es besteht eine Interaktion zwischen dem Gemälde und der Wandfläche – anders als bei der Abstraktion und der Darstellung.» Dieses unvoreingenom­me­ne, empirische Sehen ermöglicht neue Erfahrungen. Diese Kunst zwingt uns, uns kompromisslos nur mit ihr selbst zu befassen, und zwar in einer Ausschliesslichkeit, wie man sie sonst nur von der Musik kennt. Das Elementare differenziert sich beim konzentrierten Sehen. Man betritt eine eigene Welt von ungemein elementarer Intensität – wie ich sie in vergleichbarer Wirkung einzig von Agnes Martin kenne oder aber in den unvollendeten Spätwerken von Paul Cézanne wieder finde, wo sich die spärlich gesetzten Flecken nicht mehr zu einer imaginären Bildwirklichkeit verbinden lassen.

Rymans schöpft die Differenzierung seiner Kunst aus dem Material und dem Wie des Farbauftrags. Dies erklärt sein brennendes Interesse für neue Farben und Trägermaterialien. Keine neu auf den Markt gekommene weisse Farbe, kein Bindemittel, weder Lack noch Email, ferner kein als Fläche auf die Wand applizierbares Material, beispielsweise Aluminium, aus dem er im Laufe der Zeit nicht neuen Ausdruck entwickelt hätte.

Um 1965 beginnt ein neues Kapitel seines Oeuvres: Die Werke entwickeln sich systematischer, man könnte von «thematischen» Gruppen sprechen. Von nun gibt er seinen Bildern Titel. Die Titel suggerieren jedoch keine Bedeutung, sind dem Betrachter also keinerlei Zugangshilfe zum Bild. Sie dienen lediglich der Unterscheidung: «Die Titel haben keine darstellende Bedeutung, sie dienen der Identifikation. Ich habe die Titel aus den Markennamen der Materialien, der Pinsel oder der Hersteller abgeleitet. Ich versuche Worte zu wählen, die kaum Assoziationen auslösen… Das ist viel einfacher, als die Werke zu nummerieren.» Die erste Bild-Serie von 1965 heisst nach dem Farbhersteller «Windsor». Alle «Winsor»-Bilder folgen demselben Arbeitsprinzip: Der in weisse Farbe eingetauchte Pinsel wurde parallel zum oberen Bildrand gleichmässig von links nach rechts über die Leinwand geführt und jeweils neu eingetaucht, wenn er keine Farbe mehr enthielt. Die unregelmässigen Ansätze bilden eine lebendig-regelmässige, jedoch nie dogmatisch-technische Struktur. Auch wenn bei Ryman der Grund als unregelmässige Linie zwischen den Bahnen materiell in Erscheinung tritt, eignet diesen Bildern eine Wirkung, die mit Agnes Martins meditativer Malerei wirkungsmässig vergleichbar ist. Analog zu den horizontalen Leinwandlinien strukturieren bei Martin feine Bleistiftstriche die Farbflächen. Bei beiden werden wir nicht auf Inhalte und geistige Zustände hingeführt, sondern das Licht, das auf die Malerei trifft, wird zum Thema. Die Wirkung von Ruhe und konzentrierter Leere, die das Licht entfaltet, verhindert bei beiden ein Entgleiten in schwerelose Tiefen.

Die Bilder der Reihe «Windsor» heben sich als Objekte von der Wand ab. Gleichzeitig war Ryman aber auch bestrebt, das Bild der Wand materiell anzugleichen. Seit 1967 spielen genormte Stahlplatten als Bildträger eine Rolle, wie etwa die Reihe «Standard», und er appliziert unaufgespannte Leinwände, Karton und Papier direkt auf die Wand. Die Flächen werden dabei mit Klebestreifen an der Wand befestigt. Den ersten dieser wie eine Haut auf der Wand aufliegenden Leinwände gab Ryman Umrahmungen aus Wachspapier – «Adelphi». Trotz dieser engen Angleichung von Bild und Wand wird das Bild nie zur «Öffnung» in der Wand, seine Materialität wird nicht überspielt und geht verloren, sondern behauptet sich auch in den extremsten Lösungen wie den «Generals» und den «Surface Veils» als autonome Fläche auf der Wand. Das Kennzeichnen der «Surface Veils» ist die Fülle von Variationen in der Art des Farbauftrags: dicht bemalte Flächen stehen neben transparenten, die Pinselstriche wechseln die Richtungen und Aussparungen lassen Farbgrund oder Farbnähte hervortreten. Die «Surface Veils» sind mit Acryl auf Plastik oder Leinwand gemalt. Die Farbe tritt hier subjektiv-malerisch in Erscheinung. Die «Generals» sind sodann mit Emailfarbe direkt auf die Wand gemalt. Das Weiss des Wandbildes hebt sich jedoch durch seinen neutralen Glanz als glatte Haut vom matten Untergrund ab.

Es war jedoch nicht das Ziel Rymans, das Bild in die Wand und die Fläche in den Raum zu überführen. Nach den extremen Angleichungen von Wand und Bild in den «Generals» und den «Surface Veils» lässt er das Bild wieder mehr an Objekthaftigkeit gewinnen. Die Spannung zwischen Bild und Wand wurde zum Auslöser für Rymans künstlerische Beschäftigung mit den Befestigungsmöglichkeiten der Bildplatten und Bildtüchern auf der Wand. Dazu entwickelt er ab 1976 spezielle Halterungen, die zugleich als formale Fixpunkte in Erscheinung treten. «Seit diesem Zeitpunkt habe ich sichtbare Halterungen – Fasteners – auf verschiedne Weise verwendet. Manchmal wird die Malfläche direkt durch die Oberfläche hindurch befestigt. Ein anderes Mal sitzt das Bild auf der Wandfläche und wird von aussen gehalten. Manchmal verwende ich die Halterungen, die die Leinwand in einigem Abstand von der Wandfläche halten. Seltsamerweise wirkt das Bild bei einer dickeren Struktur des Malgrund des umso deutlicher an der Wand befestigt, je mehr man es von ihr wegbewegt. Mit den sehr dünnen Materialien muss man logischerweise sehr nah an die Wand heran.»

Man kann die Wirkung von Rymans Bildern nicht auf ein System zurückführen, sie lassen sich nur beschreiben. Man kann seine Bilder, wie der Künstler selber betont, nicht mitteilen, sondern muss sie erfahren. Ryman hat das Wesen seiner Kunst wohl am besten in Worte gefasst: «I think that all painting is about enligthenment and deligth and wonder. Wonder is something that has to do with experience and it has to do with painting. It is a special thing.” Das Grossartige seiner Kunst ist die enorme Vielseitigkeit, die der Künstler aus seiner absolut reduzierten Bildsprache schöpft. Jedes Bild vermittelt dabei eine neue Erfahrung von Intensität und einmaliger Ursprünglichkeit. Nur die Originale, auf die das Licht fällt, entfalten, wenn wir sie sehend erforschen und so vollenden, diese einzigartige Wirkung. Nur in einem bestimmten Ambiente, wenn das Licht die Farbe als Energie im unendlichen Spektrum zwischen Reflexion und Absorption erfahrbar macht, offenbart sich seine Kunst wirklich ganz. «Viele meiner Gemälde können dem Betrachter nicht auf normale Art gezeigt werden, indem man sie aus dem Schrank oder dem Lager hervorholt und sagt: Hier ist ein Bild. So funktionieren meine Gemälde nicht. Man kann zum Beispiel keinen Flavin aus dem Schrank hervorziehen und sagen: Hier ist ein Flavin. Das einzige, was man dann sehen würde, wären ein paar Röhren. Es muss an der Wand hängen, in einem bestimmen Umfeld. Erst dann ist es fertig.»

Eine bestimmte Lichtatmosphäre, die den ganzen Raum gleichmässig erfüllt, kein Spotlight, bringt das Wesen seiner Bilder optimal zur Anschauung. Ein ideales Ambiente für Rymans Kunst bieten die Verhältnisse in den Hallen für Neue Kunst. Das Licht fällt dort durch die weiss gestrichenen Gläser des Sheddaches . Die Wände sind in einem gebrochenen Weisston gehalten, von dem sich das hellere Weiss der Bilder abheben kann, wobei das Raumlicht das Bildweiss durch die Reflexion auf der malerisch strukturieren Oberfläche in Bewegung setzt. Der Betrachterin, dem Betrachter kommt eine aktive Rolle zu. Bei jedem Bild muss wieder neu der ideale Ort Standpunkt gesucht werden, von dem aus sich der Verlebendigungsprozess, das Spiel zwischen Farbe, Grund und Licht, wahrnehmen lässt. Rymans Bilder wirklich zu sehen, setzt Konzentration voraus, wie sie der Beobachter von Wildtieren aufwenden muss oder der Hörer ernsthafter Musik. Das Ziel des Künstlers besteht darin, seine Werke so zu präsentieren, dass der Betrachter die Kunst zu ergründen vermag, wenn er die Möglichkeit der Wahrnehmung aktiv beschreitet. Hängen die Bilder am falschen Ort, wirken sie wie die nicht angezündeten Röhren Flavins. Wenn immer die Möglichkeit besteht, richtet Ryman seine Ausstellungen selber ein. Oft kreiert er für einen speziellen Ort spezielle Bilder, beispielsweise für die Kunsthalle Basel 1975. Dabei gelingen ihm einmalige Übereinstimmungen von Raum und Bild. – Kunst und Raum sind dann nicht mehr Gegensätze, sondern verbinden sich zu einer Einheit, zum Gesamtkunstwerk. Unter allen Gesamtkunstwerkern ist er der subtilste und leiseste. Keiner kommt wie er ganz ohne Pathos aus. Vielleicht liegt es daran, dass Ryman nie so berühmt geworden ist wie manche seiner Generationsgenossen. Seiner Kunst liegt alles Spektakuläre fern. Weil sie aktive Bereitschaft von ihren Betrachtern fordert, weil sie sich nur schlecht für die Reproduktion eignet, ist der Kreis ihrer Bewunderer relativ eng. Ryman ist ein Künstler für Künstler, seine Werke sind für Kenner.

Und heute? Der Besuch in Rymans Atelier zählt für mich zur interessantesten und eindrücklichsten Künstlerbegegnung. Es ist eine sehr hohe Halle, in der gearbeitet wird. Alles Bohemienhafte fehlt. Nüchterne Konzentration. Einerseits war es die sachliche Ruhe, die dieser Künstler ausstrahlt, andrerseits seine neuen Bilder, die mich, obgleich ich sein Werk schon gut kannte, begeisterten. Dunkle Grundierungen verdeutlichen die Materialität des Weiss’ und bringen es zugleich immateriell zum Leuchten. Es gelingt diesem Künstler mit jedem neuen Werk, seine Kunst, die Kunst zu erweitern.

Es gilt das gesprochene Wort.
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