Dr. Katharina Schmidt, Vizepräsidentin der Roswitha Haftmann-Stiftung

Laudatio auf Sigmar Polke aus Anlass der Verleihung des Roswitha Haftmann-Preises 2010 am 29. April im Kunsthaus Zürich

Ein Weg zu Sigmar Polkes Kirchenfenstern.
Bilder aus Stein, Glas und Licht

Auf die Frage, was ihn an der Malerei auf durchsichtiger Seide, auf transparenten Stoffen interessiere, antwortete Sigmar Polke, er wisse alles über Glasmaler, – Sankt Lukas habe ihn alles darüber gelehrt.1 Mit dieser charmanten Volte, mit der sich der Künstler hinter dem Schutzheiligen der Maler verbarg und in die Legende entschwand, wies er einmal mehr den Betrachter auf seinen eigenen Weg der Suche und des Sehens.
Als Transparenz (Adj. transparent, von lat. trans parere – durchscheinen) bezeichnet man in der Physik vereinfacht die Eigenschaft von Materialien, elektromagnetische Wellen (u.a. Licht) hindurchzulassen. Im Alltag versteht man darunter meist die Fähigkeit, Licht nahezu vollständig durchzulassen, wie beispielsweise bei Glas. Reine Lichtdurchlässigkeit genügt aber nicht, um eine einwandfreie Bild- und Blickdurchlässigkeit zu garantieren; denn durch eine raue Oberfläche oder Teilchen im Material wird das Licht gestreut und verhindert so die klare Abbildung dahinter liegender Objekte. Weitere optische Eigenschaften wie Reflexität und Absorption werden relevant für die Unterscheidung, ob ein Stoff transparent, transluzid/durchscheinend oder opak ist. Von Transluzens spricht man, wenn die Stoffe nur teilweise lichtdurchlässig sind und das Auge lediglich dunklere oder hellere Bereiche dahinter unterscheiden kann. Die Materialien reflektieren dann das auf sie treffende Licht nicht nur an der Oberfläche, sondern auch aus tieferen Schichten. Da in die deutsche Alltagssprache der Begriff Transluzenz (transluzid) nicht eingeführt ist, verwendet man Transparenz für beide Phänomene.
Dass in Sigmar Polkes Werk dieser komplizierten Beziehung von Licht, Material, Wahrnehmung wesentliche Bedeutung zukommt, verraten schon die Titel mehrerer Werkgruppen wie Transparent, Laterna Magica, Amber oder Lense Paintings; auch wo das nicht der Fall ist, weist eine Fülle optischer Effekte und visueller Phänomene in diese Richtung. Glanz und Fluoreszenz, Diaphanes und Mattes, Moiré, Luminiszenz, Chatoyance oder blanke Durchsicht deuten nur an, welchen Erlebnisreichtum viele dieser Bilder für das Auge bereithalten. Die Eigenschaften der Malmittel sollen aber nicht davon ablenken, dass es Polke wesentlich auch um Transparenz im übertragenen Sinne geht. Mit bohrendem, forschendem Geist zielt er auf das allzu Durchschaubare und sein Gegenteil, auf die Klarheit und die Trübung, das Deutliche und das Übersehene, auf die Oberfläche und den Grund. Immer fasziniert und interessiert ihn beides: das Sowohl und das Als-auch.
Früh findet Sigmar Polke in den 60er- und beginnenden 70er-Jahren seinen von lastenden Konventionen befreiten Stil, in dem er das ganze visuelle Angebot der Alltagskultur verarbeitet und mit evokativen gestischen Setzungen, Flecken, Spuren, Rinnsalen verfremdet. Jedes Mittel ist recht, damit Motive, sprechende Wort- und Bildzitate auf den kunterbunten Mustern der Textilien, die die Leinwand ersetzen, sich überlagern, verschlingen, verschmelzen. Je dichter, delirierender die Schichtungen, desto drängender fordern sie auf hinzusehen, Zusammenhänge zu suchen und zu hinterfragen. Das Betrachten des Bildes wird zum Tauch- und Suchgang in fluktuierende, oft bodenlose Räume; ihre Reize sind immer auch verfänglich.
Polkes charakteristische Rasterbilder bestimmen ebenfalls den Blick auf den Grund; denn zwischen den vergrösserten Punkten leuchtet er leer. Die Illusion einer Wirklichkeit, die die in Rastern und Pixeln vermittelten Bilder vortäuschen, wird entlarvt und damit auch die Grenze der Wahrnehmung bewusst, wie ihre Prägung durch Muster.
Als sich zu Beginn der 80er-Jahre Polkes Interesse der Farbe, der Natur und ihren Stoffen zuwendet, erprobt er Mineralien, Metalle, Pigmente und alte Rezepturen, das Feuchte und das Trockene, das Flüssige und Feste; er mischt, kocht, braut, reibt, stäubt, erhitzt und lässt wieder erkalten. Hermetik und Alchemie lenken den Blick auf die Substanzen und die unaufhörliche Verwandlung, die allen Dingen innewohnt. Glanz und Spiegelungen erschweren den visuellen Zugang zu den Bildern, nächtlich irisierenden Räumen oder Gefilden im Frühlicht. Gelblich getönte Kunstharze, durchscheinend, schimmernd oder matt, entwickeln sich in vielen Schüttungen auf grossen Leinwänden zu allseits offenem Terrain. Durch Standortwechsel muss sich der Betrachter allmählich hineinfinden. Zwar liebt der Maler den schnellen Blick, dem flüchtigen aber stellt er Fallen. Hydro- und Thermobilder, die sich verändern, laden zur Rückkehr ein.
Um physisch und methodisch eine noch grössere Durchsichtigkeit zu erzielen, wählt Polke seit etwa 1988 einen transluziden Bildträger: in Harz getränktes Polyestergewebe.2 Es macht den Keilrahmen sichtbar, sodass er zum Bestandteil der Komposition und Bildidee werden kann. Zeichnerisch linear und gestisch frei oder gerastert, ergänzen sich die Motive, nun häufiger der Kunst- und Kulturgeschichte entnommen, auf dem durchscheinenden Grund, als gelte es sie zu bewahren; auch aus Märchen tauchen Funde auf, Phantastisches und Kurioses, daneben bleibt das Zeitgeschehen virulent. Je mehr die Bilder ihre Materialität offenlegen, bis zum klaren Blick auf die nackte Wand dahinter, desto fragiler erscheinen sie. Die farbenprächtigen Lense Paintings mit einer vor das Bild montierten senkrecht geriffelten Lentikularlinse3 thematisieren nochmals einprägsam, wie wir sehen, was wir wahrnehmen und inwieweit der Betrachter Teil des Bildes ist. Je nach Blickwinkel erscheint das Gesehene immer anders, plausibel oder grotesk, da die geriffelte Oberfläche und unterschiedliche Dichte der Linse Refraktionen und damit Verzerrungen und Veränderungen erzeugen.4 Nur aus bestimmten Positionen erschliesst sich die Darstellung sinnvoll.

Der Auftrag für das Zürcher Grossmünster

Die Aufgabe für das Zürcher Grossmünster bestand darin, alle Fenster der Seitenschiffe zu gestalten. Statt einer stilistisch einheitlichen Lösung entschied sich Polke für eine Zweiteilung, indem er die fünf gleich grossen Fenster östlich der beiden Portale, zwei im Norden, drei im Süden, figurativ mit Themen aus dem Alten Testament gestaltete, die übrigen sieben abstrakt behandelte. Damit schuf er sowohl die Voraussetzung für eine gewisse Homogenisierung des hinteren Kirchenraumes mit seinen unterschiedlichen Fenstertypen, der nach einem Gegengewicht zum Chor mit den in tiefen Farben leuchtenden Fenstern von Augusto Giacometti verlangte, als auch die Möglichkeit zu einer Vereinheitlichung im geistigen Sinn.

Die Achatfenster

Die aussergewöhnliche Materialwahl der Achatscheiben führte zu einem einzigartigen Ergebnis. Wie Alabaster wurde der widerstandsfähige Edelstein schon früh sehr geschätzt, doch nie in dieser Form verwendet.5 Um kosmische und erdgeschichtliche Bezüge aufzuzeigen, hatte Polke bereits 1986 einen Meteor und einen Kristall in sein Konzept der Biennale einbezogen,6 später auch Gold sowie einen Jadeblock ausgestellt7 und kostbare Bernstein-Objekte mit seinen Amber-Paintings kombiniert. Die augenfällige Ähnlichkeit der Weltscheibe auf einer Genesis-Miniatur mit einem Achat-Schnitt brachte ihn auf die Idee. In der Wiener Bible moralisée8 vermisst der Schöpfer mit einem Zirkel den Kosmos, den der mittelalterliche Illuminator in konzentrischen Kreisen darstellte; um die Erde im Zentrum drehen sich die Gestirne auf nächtlichem Grund, den Wasser und Luft umkräuseln mit einem hellgrünen und bläulich-weissen Saum.9
Wer durch das nördliche Portal des Grossmünsters eintritt und sich im Innern umwendet, hält staunend inne. Denn wo von aussen kaum ein sanftes Muster sichtbar ist, verblüfft über dem Türsturz ein funkelndes Bild, ein intensives Farbenspiel, bunt gefügt. Erst auf den zweiten Blick wird in dem Blau, Grün und Purpur, die helles Rot überbietet, im Braun, Beige und Grau auch die Komposition erkennbar, ihre Ordnung und Symmetrie. Die vertikale Mittelsprosse im Halbkreis des einstigen Tympanons10 fungiert als Spiegelachse für die runden und ovalen Scheiben aus Achat. Von der Mitte der Basis strahlen die locker angeordneten Reihen nach aussen, rote Paare treten in Konkurrenz zu grünen Sequenzen, weiss aufleuchtende Kristalle unterbrechen kobaltblaue Partien. Ein Teil der Steine verdankt den kräftigen Farbton künstlicher Behandlung; da ihre Konturen für die Fassung der Bleiruten kaum begradigt scheinen, entsteht der Eindruck eines natürlichen Konglomerats. Dass schräg zwei übergrosse Scheiben schwärzlich-trübe aus der Buntheit schauen, verwandelt sie in einen starren Blick aus hunderttausend Augen: ein Dämon. Schützt er den Ausgang? Bewacht er den Eingang?
Keines der anderen Achat-Fenster entfaltet die gleiche Präsenz wie dieses, doch jedes birgt seinen eigenen Zauber. Die schmalen Öffnungen in den tiefen Laibungen der dicken Mauern der Turmfassade lassen kaum anderes als eine vertikale Anordnung der Rundformen zu. Während das nördliche Fenster durch ein helles Rot, das südliche durch ein kräftiges Blau auf die Gewandfarben der Apostel aus dem 19. Jahrhundert im Mittelschiff reagieren, herrschen in den übrigen die natürlichen Töne der Achat-Varietäten vor, von künstlich-blauen Einzelexemplaren akzentuiert. Insgesamt fügen sich Polkes Achatfenster mit ihrer unregelmässig-regelmässigen Struktur wie ein kostbares Mosaik in das Mauerwerk und schliessen es, als habe sich das massige Gestein selbst in leuchtende Materie verwandelt. Tatsächlich werden die Achat-Mandeln nur in dünn geschnittenen Scheiben durchscheinend. In ihren feinen kristallinen Schichten brechen und filtern sie das Licht. So leuchten sie wie aus der Tiefe der Zeiten und offenbaren strahlend ihre uralte Substanz.

Der Menschensohn

Anders als die Achatfenster sind die figürlichen mit Darstellungen aus dem Alten Testament aus Glas gestaltet und hell. Hart mutet der Kontrast zu dem nächstliegenden an, das den Titel Der Menschensohn trägt. Möglicherweise nimmt es Bezug auf den zweiten Schöpfungstag, an dem sich das Licht von der Finsternis schied;11 denn die Opposition von Schwarz und Weiss mit wenig vermittelndem Grau bestimmt das Bild. Den Menschen führt es ein in Form von lebensgrossen Gesichtsprofilen.12 Vier Quersprossen unterteilen die Lanzetten in acht rechteckige Felder, in denen Polke jeweils die Kippfigur des sogenannten Rubin’schen Bechers13 wiederholt; an der Mittelachse bildet sich so eine Säule aus Janusköpfen.
Der Effekt der Kippfigur entsteht bei vollkommen flächiger Darstellung durch die Gleichwertigkeit der Silhouetten und Kelche, sodass beide als Figur und Grund wahrgenommen werden können. Doch ist dies nicht gleichzeitig möglich: Konzentriert man sich auf die Köpfe, werden die Kelche zum leeren Grund und umgekehrt. Um dieses Entweder-Oder, um diese Zweideutigkeit, den Unsicherheitsfaktor geht es hier. Die Schattenrisse, elektronisch verfremdet, entindividualisiert, vielleicht vier Typen aus der Temperamentenlehre, bestimmen die Form der acht Kelche: die elegante ziselierte Tazza oben, die stattlichen Pokale in der Mitte, unten das dünne, leicht missglückte schiefe Exemplar, eine Art Ausschussware. Offenbar versteht Polke den Begriff des Menschensohns im Sinne von «der Menschen an sich» oder «alle Menschen», wie er sie gerastert hatte als Menschenmenge (1969)14, erwartungsvoll und starr nach oben blickend und in der Masse auch beklemmend. In den Fenstern scheinen sich gewisse Köpfe in ständiger Bewegung anzunähern, um dann zurückzufahren vor dem hellen Kelch mit wundersamer Aura, der dazwischentritt. Das Phänomen hält den Betrachter in Bann. Erzeugt durch dünnere Schwarzlot-Lasuren der Konturen, erschreckt und fasziniert es immer neu. Zwiespältig und eher düster bleibt das Menschenbild; der Künstler selbst nimmt sich nicht aus. Dennoch strahlt das Fenster in «weisser Helle»15; denn das gestreute Licht der Zwickel und der Kelche bringt diffuse matte Helligkeit hervor, während sich an Übergängen hauchdünne Schwarzlotlasuren fein ziseliert abgrenzen vom Weiss oder in den dunklen Flächen münden.
Im Fensterkopf kehrt Polke die Situation um. Von Strahlen getragen erscheint dort vor hellem Grund ein dunkler, fein ornamentierter Kelch; angedeutete Untersicht verstärkt seine auratische Präsenz. Im Gotteshaus Zwinglis spricht der Maler durch diese stabile Bekrönung als tieferen Bildsinn die Teilhabe aller Menschen an dem symbolischen Trank des Abendmahles an. Die Irritation der Wahrnehmung macht jedoch bewusst, dass die Zeichen mehrdeutig bleiben, durchscheinend auf ein Geheimnis, das sich immer wieder entzieht.

Der Prophet Elijas

Prägnant hebt sich im benachbarten Fenster, das der Entrückung des Propheten Elijas gewidmet ist,16 das zentrale Motiv vom Grund ab; Polke übernahm die szenische P-Initiale aus einer französischen illuminierten Bibel des 12. Jahrhunderts, da sie die stürmische Himmelfahrt des Propheten im feurigen Pferdegespann wiedergibt.17 In dem ornamental gefassten Kreisrund des Buchstabens erkennt man Elija auf einem Streitwagen. Die Deichsel weist empor, zwei Rosse stampfen mit brennenden Hufen, alles flammt in den Primärfarben Gelb, Rot, Blau und Grün, selbst die Speichen des Rades züngeln wie eine feurige Blüte. Elija, mit weissem Haar und Bart, reicht mit der Rechten den Mantel an Elisa. Dieser, im Vertikalstrich des P verstrickt in vegetabile Ranken, ergreift mit ausgestrecktem Arm das Zeichen der Prophetengabe; mit ihm sind ihm «zwei Anteile» von Elijas Geist gewiss. Polke verkürzt die Initiale um ihre übergrosse Unterlänge bis zur Figur des Elisa, fasst sie mit der Bleirute in eine auffällig starke Kontur, als sei das ausserordentliche Geschehen im Buchstaben zu bewahren, vergrössert sie auf Fensterbreite und setzt sie in die Mitte, sodass das riesige P dort wie im Himmel schwebt. Die Sprossen finden wenig Beachtung, nur die runden Formen im Fensterkopf tragen die kreisende Aufwärtsbewegung von Wagenrad und Elija-Szene weiter.
Das Elija-Fenster, kompakt und hell, ist in der Initiale wie in ihrem Umraum aus dickem Glas geschaffen. Für die Umsetzung der schwarzweiss reproduzierten Bibelseite fand Polke eine eigene Farbigkeit. Das lodernde Ereignis im P, aus gläsernen Farbstreifen gebildet, wiederholt die Pinselstriche der Miniatur und glitzert wie selbstentzündet, während Elisa irdisch verschattet zurücktritt in dunklem Blauviolett, in Grün, und Schwarz. Die restliche Fläche füllt ein Mosaik aus gläsernen Kieselsteinen. Von unten nach oben hellen sie sich auf, in lichtes Blau mischen sich aleatorisch belebende Rot- und Rosa-Töne, einzelnes Grün und nahe dem P ein schweres Violett; Goldgelb und Hellrot öffnen im Bogen gleichsam den Himmel. Jeder Farbton wurde eigens hergestellt, jedes Element als plankonvexe Linse geschmolzen und in einer weissen, ebenfalls gläsernen Fassung gehalten, ein einzigartiger Effekt, denn in jeder Wölbung spiegelt sich bei Sonnenschein der Himmel. Als sei die Luft von Energie erfüllt, trägt sie Elija hoch in eine andere Welt.
Polke interessierte sich stets ironisch, frech und neugierig für alles Übernatürliche und was sich dafür ausgibt. Levitationen verschiedenster Art haben ihn beschäftigt, auch die der eigenen Person. Im Sternenhimmeltuch (1968)18 entdeckt er seinen Namen aus Himmelskörpern in den Kosmos eingeschrieben, ans Firmament entrückt, wie dies in antiken Mythen häufig den Helden und ihren Opfern geschah. Lässt sich der Prophet, der auserwählte Seher, als Synonym des Künstlers deuten? Die Dramatik des Abschieds, die Trauer, die in diesem Fenster auch anklingt, wirkt letztlich aufgehoben in einer wunderbaren Heiterkeit und Zuversicht. Elisa wird den Ziegenmantel des Elija tragen und mit ihm wundersam den Jordan teilen.

König David

Obwohl die Bibel Davids Harfenspiel, mit dem der junge Hirte König Saul die bösen Geister vertrieb, später nicht mehr erwähnt, herrscht in der christlichen Ikonographie das Bild des musizierenden und dichtenden Priesterkönigs vor. Im kirchlichen Denken des Mittelalters spielte er als direkter Vorfahr Christi, als Gerechter des Alten Bundes, Psalmist und alttestamentliches Vorbild des Messias eine eminente und vorbildliche Rolle. Der musizierende Psalmist stand im Vordergrund und wurde in den Psaltern vielfach als Autor abgebildet.19
Die Bedeutung der biblischen Figur, die überlebensgross die ganze Fensterfläche füllt, wird durch ihre Monumentalität zur Geltung gebracht. David thront in Herrscherpose;20 leicht nach rechts gewandt, weist er mit deutlicher Gebärde auch in diese Richtung, doch das Ziel des Zeigegestus bleibt verborgen;21 den Arm selbst überdeckt das grellweiss applizierte Instrument. Da das Fusskissen des Königs unten schräg an die Laibung anschliesst, scheint er, dem Gott den Tempelbau verwehrte, zurückgesetzt in einen Vorraum jenseits des schwarzen Sprossenkreuzes. Königliche Kleidung, Armilla, das prächtig gesäumte Gewand, die bestickten Schuhe, der faltenreich über die Knie drapierte Mantel bringen neben den hellen Partien von Gesicht und Händen weisse, mit Schwarzlot modellierte Akzente in das monochrom grüne Bild. Das Glas, eigens in diesem hellen, doch satten Ton hergestellt, zeigt ungewöhnlich grosse Einzelformen.
Dass es dem Maler nicht um ein idealisiertes David-Bild ging – auch die Bibel hinterlässt den Eindruck einer widersprüchlichen Gestalt –, verrät der Blick auf das Gesicht. Als spähe er finster, im Grün der Zwickel getarnt, durch ein Guckloch, erscheint der Kopf im Kreis der runden Formscheibe: ein bärtiger, langhaariger Krieger, der Anstifter und Held zahlloser Kämpfe, der vor Verfolgern keine Ruhe findet und sie dennoch verschont. Statt der Krone trägt er eine Kappe mit Kokarde; die Augen decken runde Scheiben, hinter denen sich der Blick verbirgt.
Lässt sich in einer zweiten Lesart das Bild auch anders sehen? Als «grüne Auen» des Psalmisten?22 Die schmiegsame lineare Binnenzeichnung evoziert den Anblick fruchtbarer Parzellen, bewachsener Hügel, felsiger Schluchten mit blauen Rinnsalen. Dass sie, kaum merklich, um das Haupt des Königs rot schimmern, irritiert, doch passt es auch ins Bild.
Der Harfe, eines der ältesten Musikinstrumente, sprach man von jeher magische und heilende Kräfte zu; in nordischen Mythen kommt sie ebenso vor wie in grotesken Tierdarstellungen des Mittelalters. In Polkes David-Fenster, der keltischen Variante nachempfunden, bestimmt sie das Zentrum der Komposition, wirkt hier aber auffallend fremd eingesetzt, flach und weiss – ein Störfaktor? Verweis auf eine andere Realität? Die Konturen Davids scheinen durch das stilistisch irritierende Instrument hindurch als feine Risse. Alter? Verschleiss? Das flächig monochrome Grün kennzeichnet den König als Hoffnungsträger der Verheissung und den Psalmisten als Garant der Kunst. Als solchen bringt ihn hier sein zeitlos stilisiertes Attribut zur Geltung. Die Harfe ragt, noch abgestützt auf Davids Leib, zwischen den Sprossen nach vorn, weiss und von entschiedener Präsenz.

Opferung Isaaks

Auf den monumentalen König David folgt nun die Umstellung auf eine relativ kleinteilige Komposition , abermals mit einer Gliederung der Lanzetten in acht gleich grosse Felder, von denen die vier unteren, die vier oberen und der Fensterkopf je eine gestalterische Einheit bilden. Aus einer Simultandarstellung der biblischen Erzählung23, von der ihm eine schwarzweisse Reproduktion vorlag, wählt Polke prägnante Details und verarbeitet sie ornamental. In den unteren vier Scheiben ordnet er zwei Motive über Kreuz: Unten links und diagonal darüber steht jeweils zur Mitte hin gewandt die Silhouette eines Widders, rötlich vor hellem rosa Grund24; sein aus Email geformter Leib, noch von Gestrüpp umrankt, changiert ins Bläuliche. Die Verdoppelung verweist auf Leviticus 16,5–28, wonach zum Feste der Versöhnung Aaron zwei Ziegenböcke opfern soll, einen dem Herrn und einen dem Wüstendämon Asasel. Das andere Motiv, rechts unten und links darüber, wirkt brutal. Polke hat Abrahams Arm und Hand, die Isaak an den Haaren packt, so gespiegelt und umgeklappt, dass zwei Hände von unten zwei hilflose Köpfe greifen. Da die figürlichen Elemente aus kleinen kugeligen Linsen reliefartig gearbeitet sind,25 entsteht durch die Brechung des Lichtes eine verwirrend unruhige Oberfläche, die dem dramatischen Sujet entspricht. Der lila Ton von Abrahams Ärmel ergänzt komplementär das Dunkelgrün von Isaaks Wams, die gelben Haare und sein weisses Gesicht schimmern blass im Gegensatz zum Blutrot des
Böckchens – Opfer beide. Einem Windrad gleich drehen sich die Bilder vor unseren Augen, ein Perpetuum mobile der Gewalt. Polke isoliert hier wesentliche Motive aus der mythologischen Erzählung und ihrer Illustration, um in ornamentaler Verknappung den harten Kern freizulegen.
Bei aller Eleganz vertiefen die vier Mittelfelder den Eindruck der Gewalt. Abrahams Dreiviertelfigur mit dem gezückten und verkürzten Schwert ist an den Diagonalen
jeder Scheibe so gespiegelt, dass er sich – ein Hinweis auf die Verheissung seiner Nachkommenschaft – verachtfacht. Viermal ist er mit sich selbst konfrontiert, die Klingen seiner Waffe blockieren sich und schliessen den biegsamen Leib des Greises wie in einem filigranen griechischen Kreuz zusammen; Negativformen ergänzen sich ebenfalls zu Kreuzes und Rosette. Dieses seltsam preziöse Zeichen, eine aus zartfarbenem Email geformte Mischung von Rad und Kreuz, beansprucht die ganze Fläche. Dass Abrahams helllila Gewand ein dunkles Muster schmückt, verleiht den kurvigen bewegten Formen einen zusätzlichen Impuls26 und verstärkt ihre Präsenz vor dem durchgehend hellen Hintergrund. Die beiden Kopffeldscheiben füllt ein abstraktes, wolkiges Muster, blau, grau und lila, während sich in der runden Scheibe darüber Kopf und Flügel des himmlischen Boten zu einem Andreaskreuz multiplizieren, von grünen Zwickeln gerahmt – ein milderer Abschluss zwar, doch fern und schwer erkennbar.
Polke geht frei mit der biblischen Erzählung um. Wenige Mittel wie Zitat, Repetition, Spiegelungen und ein innovativer Einsatz der Glastechnik genügen für die schrittweise Umwandlung in immer abstraktere Formen, gepaart mit einer Bedeutungsverschiebung ins überzeitlich Allgemeine. Von der Aussagekraft und Komplexität ornamentaler Symbolik vermittelt dieses Fenster einen intensiven Eindruck.

Der Sündenbock

Dem Sündenbock27 widmete Polke das fünfte figurative Bild. Die in Isaaks Opferung bereits vorgestellte Figur des Widders nach der ganzseitigen Miniatur der Aelfric-Paraphrase28 wird in verändertem Kontext aufs Schönste zur Geltung gebracht. Man sieht ein anmutiges Tier mit weissem Zottelfell, grazilen Beinen und trittsicheren Hufen. Nur hier setzt Polke die für sein Werk charakteristische Rastertechnik ein, um Konturen mit Malerei farbig zu verstärken und zu modellieren.29 Die zeitliche Abläufe vergegenwärtigende Simultandarstellung übernimmt er aus der mittelalterlichen Miniatur, jetzt auf den Wüstengang bezogen; denn in dem schmalen Fenster ermöglicht die Zweiteilung, das Tier imposant zu vergrössern. Auf der unteren Ebene sieht man den Hinterleib des Bockes bis zur Schulter von rechts nach links über grünend holprigen Grund traben, von einer Ranke umschlungen, mit der auch die Flora eingeführt wird. Im oberen Bereich, wie auf einem entlegenen, inzwischen erklommenen Plateau, kommt nun nach rechts gewandt sein Vorderteil ins Bild. Noch stehen die Hufe auf begrüntem Boden, spriesst Blattgewächs sich als Spirale ringelnd vor ihm auf; doch helles Rosa hinterlegt die Szene mit dem gleissenden Licht der Wüste; die weisse Sonne, wie ihr alchemistisches Zeichen von einem Halo umgeben30, durchstrahlt alles.31 Das gelb gehörnte Tier wirkt ruhig, unerschrocken;32 sein anthropomorpher Blick scheint wissend; dunkelrot hängt eine Träne auf seiner Wange. Dieser unschuldigen Kreatur hat Polke den kostbarsten Schmuck zugedacht; denn die Bürde des Bocks wird sichtbar. Noch einmal wählt der Maler Edelsteine, hier gemeinsam mit dem Glas verarbeitet, und übersät das Tier mit funkelnden Turmalinen, als habe sich das Gemenge einer trüben Last auf seinem Leib wundersam verwandelt. Kein anderer Stein zeigt einen Farbenreichtum wie der seltene Turmalin.33 Unter den Kristallen zeichnet er sich durch manche Besonderheiten aus, in der arabischen Tradition gilt er als Stein der Sonne; heilende Kräfte werden ihm zugesprochen. Polke verteilt achtzehn verschieden grosse Scheiben, fast alle auf dem Tier; kleinere sitzen als Sprenkel an den Pflanzen; ein rotes Herz treibt unten zwischen Huf und Kraut. Die grossen Rubellite herrschen vor, Rot, Rosa, Violett auf Stirne, Hals und Brust des Bocks, die dunkleren auf Rücken, Leib und Hinterschenkel. Fast alle, auch die kleinen, hellgrün mit rosa, die dunklen, gelb und braun, enthalten das zentrale Dreieck des Turmalins, aus Schichten um den Kern exakt gewachsen; besonders strahlt die grösste Scheibe aus einem Prisma mit dreiflügeliger Säule34. Polke adelt mit den Edelsteinen sein Motiv, aber auch das Glas, mit dem er sie verbindet. Noch einmal ruft er mit ihnen am «Rand der Wüste» die erdgeschichtliche Zeit auf, macht die Schönheit und den Reichtum der natürlichen Farben und die gestalterische Kraft der Natur sichtbar, den faszinierenden Aufbau der Kristalle, auch die Würde des Tiers und die geheimnisvolle Bewegung der Pflanzen. Im weissen Licht der Sonne leuchten sie und sind tödlich bedroht. Nicht von ungefähr, will es scheinen, trägt dieses Fenster die Signatur für alle zwölf: «Gestaltung Sigmar Polke/ Glasmalerei Mäder/ Zürich/ 2009».
Der Eindruck, den diese Kirchenfenster hinterlassen, wirkt lange nach; sie vermitteln eine Vorstellung davon, wie klug der Maler auf den Ort und die Situation einging und lassen doch nie den Zauber, die selbstverständliche Leichtigkeit und Eleganz seiner Kunst vermissen. Das Durchsichtige, das Durchscheinende hat daran seinen Anteil und eine immer überraschende Erfindungskraft und Flexibilität. Hier, wo durch die Funktion der Fenster sowie die ungewöhnlichen bildnerischen Mittel, Achate und Glas, andere Voraussetzungen herrschen als im Ausstellungsraum mit meist künstlicher Beleuchtung, durchdringt das natürliche Licht35 die Bilder im Wechsel der Jahres- und Tageszeiten, es macht sie sichtbar und setzt auch immer wieder andere Akzente. Launen der Meteorologie, der klare und bedeckte Himmel, vorüberziehende Wolken entscheiden mit, wie belebt oder wie zeitlos und still sie wirken. Ein abendlicher Gang über den Platz und um die Kirche, wenn im Innern Licht brennt, versetzt in Staunen. Dann zeigen sich die Bilder von der anderen Seite. Die Edelsteine funkeln kostbar, die Figuren treten geheimnisvoll in Erscheinung: der König, der Prophet, das wundersame Tier.
Die ungewöhnliche Offenheit in Sigmar Polkes Kunst, Ausdruck einer besonderen Weltwachheit, liess ihn statt eines geschlossenen Themas separate Sujets auswählen und nach ganz verschiedenen Gestaltungsprinzipien behandeln. Eine Vielzahl gattungsgeschichtlicher und gattungsspezifischer Bezüge leuchtet dabei auf; das Sehen, die Optik und die Wahrnehmung werden hinterfragt, das Augenhafte der Achatscheiben, das Angeschautwerden erweisen sich als Teil eines Konzeptes, das die Möglichkeiten der heutigen Malerei nach vielen Seiten hin auslotet und den Betrachter einbezieht. Sein Blick dringt hier nicht in eine Tiefe, sucht nicht den Zugang zu verdeckten, obskuren Schichten, sondern befragt das im Licht Entgegenkommende nach dem, was hier «vom Grund her» sichtbar wird.
Der geistige Raum, der in diesen Fensterbildern aufscheint, hat einen weiten Zeithorizont. Die Schichtungen der Achate vergegenwärtigen die erdgeschichtliche Frühzeit der ersten Schöpfungstage. Alle figürlich gestalteten Themen entstammen dem Alten Testament und lassen sich im christlichen Verständnis typologisch auf den Messias beziehen, dessen Epiphanie die Fenster von Augusto Giacometti im Chor darstellen. Mit jedem Begriff und jeder von Polke gewählten Figur verbindet sich eine andere biblische Erzählung; der Bogen spannt sich vom mythischen Schöpfungsbericht bis zur historischen Zeit, von der mündlichen Überlieferung zur Schrift und zum Bild, das die Geschichten veranschaulicht und präsent hält. Wenn Sigmar Polke Miniaturen des 12. Jahrhunderts als Vorlagen aussucht, bezieht er sich auf Darstellungen aus der Entstehungszeit des Grossmünsters. Aber was er verwendet, sind Photokopien von Reproduktionen von Photographien der Miniaturen, die ihrerseits ikonographische Traditionen prägen. Er greift sprechende Details auf, schenkt ihnen eine neue Farbigkeit, Materialität und Grösse. Einerseits werden sie bewahrt, erfahren aber im neuen Kontext eine Umdeutung und werden seinem Bildsinn, den sie mitkonstituieren, anverwandelt. An die Stelle der chronologischen Abfolge und des erzählerischen Verlaufs sind hier Simultaneität und Einzeldarstellungen getreten. Sie erlauben zwar die in sich stimmige Gesamtschau, betonen aber doch die individuelle Deutungsmöglichkeit und Freiheit der Bilder. Eindeutig sind diese nie und ihr symbolischer Gehalt bleibt unausschöpfbar. Sie öffnen sich den Widersprüchen und dem Zwiespalt, der Illusion, dem Wunder und dem guten Glauben, der Härte und der Heilung, der Schönheit der Erde und der Würde der Kreatur. Zu diesen Bildern kann man zurückkehren, um sie immer wieder neu zu befragen.


1 Paul Groot «Sigmar Polke, Impervisions to Facile Interpretation. Polke wants to Reinstate the Mystery of Painting», in: Flash Art 140, 11. Jg., Mai–Juni 1988, S. 66–68. Hierzu: G. Roger Densown, «Polkes Evangelium der Transparenz», in: Parkett 30, 8. Jg., 1991, S. 115 ff. Sigmar Polke hatte am Beginn seiner Ausbildung (1959–1960) bei der Firma Derix in Düsseldorf-Kaiserswerth eine Glasmaler-Lehre absolviert.
2 Die Transluzens wird dadurch erreicht, dass das mit Harz getränkte Gewebe die Lichtwellen anders reflektiert und damit durch das Material leitet. 
3 Polke stellte sie in einem komplizierten Verfahren selbst her.
4 Hierzu: Charles W. Haxthausen, «Zu Sigmar Polkes ‹Linsenbildern›», in: Wunder von Siegen, Kat. Museum für Gegenwartskunst Siegen 2007, Dumont-Buchverlag, Köln 2008, S. 32–41.
5 Der Achat, so benannt von Theophrastus von Eresos (um 371–287), nach seinem reichen Vorkommen in dem Fluss Achate auf Sizilien, wurde schon in altägyptischer Zeit, für Siegel, Schmuck und Gefässe verwendet. Erwähnung findet er in 2 Exodus 28,17–21; neben Amethyst und Hyazinth soll er den Brustschild des Priesters schmücken. In der Antike fertigte man kostbare Gegenstände aus Achat an; besonders schön kam er auch in Pietra-Dura-Arbeiten der Renaissance zur Geltung. 
6 Sigmar Polke, «Athanor». XLII. Biennale von Venedig 1986, Deutscher Pavillon, Kurator Dirk Stemmler. 
7 U.a. Museum of Modern Art, San Francisco, Nov. 1990–Jan. 1991. 
8 Bible moralisée, Codex Vindobonensis 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek, Titelseite 1-fol. I verso; das Werk wird ungefähr in die Entstehungszeit des Grossmünsters datiert.
9 Als mikrokristalline Varietät der Quarz-Gruppe bildet der Achat durch rhythmische Kristallisation zahlreiche Schichten aus, wenn durch Auskleiden und Ausfüllen von Hohlräumen – oft Blasen in erkalteter Lava – in unendlich langsamem Prozess seine Mandelform heranwächst, ein Vorgang, bei dem auch vielfach weiss glitzernde gröbere Kristalle entstehen. In natürlicher Färbung weist der Achat vorzugsweise bläuliche, beige, braune, orange und graue Töne auf, nie Kobaltbau, Magenta, Lila und Pink, was vor allem im Hinblick auf die Schmuckverarbeitung zur Buntfärbung durch Hitze und Bäder führte (seit 1813).
10 Es wurde 1766, als man auch die Fenster vergrösserte, entfernt und durch Glas ersetzt.
11 Wie oben, Anm. 8, 2 –fl.I, das Medaillon in der oberen Zeile links. 
12 So die Anmutung; tatsächlich sind sie überlebensgross.
13 Nach dem dänischen Psychologen Edgar Rubin (1886–1951) benannte Kippfigur. 
14 Sigmar Polke, Menschenmenge, 1969, Dispersion auf Leinwand, 180 x 195 cm, Kunstmuseum Bonn.
15 Wolfgang Schöne, Das Licht in der Malerei, 4. Aufl., Gebr.-Mann-Verlag, Berlin 1954, S.203.
16 2 Könige 2, 9–14: «Als sie drüben angekommen waren, sagte Elija zu Elisa: ‹Sprich eine Bitte aus, die ich dir erfüllen soll, bevor ich von dir weggenommen werde.› Elisa antwortete: ‹Möchten mir doch zwei Anteile deines Geistes zufallen.› Elija entgegnete: ‹Du hast etwas Schweres erbeten. Wenn du siehst, wie ich von dir weggenommen werde, wird es dir zuteil werden. Sonst aber wird es nicht geschehen.› Während sie miteinander gingen und redeten, erschien ein feuriger Wagen mit feurigen Pferden und trennte beide voneinander. Elija fuhr im Wirbelsturm zum Himmel empor. Elisa sah es und rief laut: ‹Mein Vater! Mein Vater! Wagen Israels und sein Lenker!› Als er ihn nicht mehr sah, fasste er sein [eigenes]Gewand und riss es mitten entzwei. Dann hob er den Mantel auf, der Elija entfallen war, kehrte um und trat an das Ufer des Jordan.» Auch: 1Könige 19,16. und 19, 21: «Auf Geheiss des Herrn salbte Elija den Elisa zum Propheten; dieser trat darauf hin in seinen Dienst.»
17 P, «Entrückung des Elija», Sens Bible, 452 x 290 mm, Sens, Bibl. Mun. 1, fol.163 v; verwendete Kopie aus: Walter Cahn, The Twelfth Century.Romanesque Manuscripts , Bd. II, Abb. 177. Harvey-Miller-Verlag, London 1996. Dankenswerte Hinweise von Jacqueline Burckhardt und Bice Curiger. Cahn bildet wie Hans Swarzenski («Fragments of a Romanesque Bible», Gazette des Beaux-Arts [Mélange Pocher], 1963, S. 79) eine ältere Photographie des seltenen Blattes von H. Pissot ab, die nicht die ganze Seite wiedergibt.
Es handelt sich um eine szenische Initiale, vermutlich im 12. Jh. in der Champagne oder im nördlichen Burgund entstanden. Das P steht am Beginn von 2 Könige 1: «Prevaricatus est autem moab in Israel postquam mortuus est ahab.» (Nach dem Tod Ahabs fiel Moab von Israel ab.) In einem Interview mit Peter Schjeldahl («Many-Colored Glass», in: The NewYorker, 12. Mai 2008) verweist Polke in diesem Zusammenhang auch auf den griechischen Sonnengott Helios. 
18 Sigmar Polke, Sternenhimmeltuch, 1968, Filztuch, Klebeband, Kordeln, Pappscheiben, 250 x 240 cm, Privatbesitz.
19 Ein Kapitell an einer Halbsäule am Nordportal des Grossmünsters zeigt den musizierenden König. 
20 Als Bildquelle soll eine mittelalterliche Herodes-Miniatur gedient haben, die Vorlage ist nicht bekannt. Dankenswerter Hinweis von Bice Curiger.
21 Polke ging es vermutlich um eine typisch mittelalterliche Herrscherdarstellung. Der Gestus liesse sich als allgemeiner Verweis auf seine Vorläuferrolle deuten. 
22 Psalm 23 (König David zugeschriebene): «Der Herr ist mein Hirte, / nichts wird mir fehlen. / Er lässt mich lagern auf grünen Auen / und führt mich zum Ruheplatz am Wasser …» 
23 Paraphrase Aelfrics, London, British Library, Cotton Claudius B IV, fol. 3, «Abraham und Isaak». Polke verwendet als Vorlage die schwarzweisse Reproduktion, in: Walter Cahn, Die Bibel in der Romanik, Hirmer Verlag, München 1982, S. 89. Polke entnimmt dieser Vorlage für das Fenster Isaaks Opferung (n III) folgende Motive: Isaak, den Abraham am Kopf packt; Abrahams Oberkörper mit erhobenem Schwert; Engel; Widder. Der Widder dient auch als Vorlage für den Sündenbock im gleichnamigen Fenster anstelle eines Ziegenbocks (n IV).
24 Polke soll vom «Blutfleck» gesprochen haben. Dankenswerter Hinweis von Urs Rickenbach.
25 Es handelt sich um halbkonkave Linsen, die eigens in der Mäder AG hergestellt wurden und deren Wölbung in den Raum weist, vergleichbar (s IX).
26 Urs Rickenbach spricht von einem Damastmuster. Es wurde aus der Körperform Abrahams herausgeschnitten (sandgestrahlt) und mit farbigem Granulat anschliessend dunkellila eingeschmolzen. 
27 Leviticus 16,5–28. Das Ritual für den Versöhnungstag: «… Aaron soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes legen und über ihm alle Sünden der Israeliten, alle ihre Frevel und alle ihre Fehler bekennen. Nachdem er sie so auf den Kopf des Tieres geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste treiben lassen. Und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen.»
28 Wie oben, Anm. 24.
29 Die Konturen und Zotteln des Bocks sind braun, die der Pflanzen grün gerastert.
30 Auch das alchemistische Zeichen für Gold.
31 Urs Rickenbach erläuterte, dass die rosa Scheibe hier mit einer weissen hinterlegt ist. Das Zentrum der Sonne und ihr Halo wurden so tief sandgestrahlt, dass sie hellweiss leuchten. Wegen des insgesamt in sehr hellen Farbtönen gehaltenen Fensters liess Polke das Glas insgesamt mit einer Struktur versehen, die die direkte Durchsicht nimmt.
32 Nach heutigem Forschungsstand können sich Herdentiere, wie Schafe, die Gesichter von 50 Artgenossen bis zu zwei Jahren merken. Auf Isolation reagieren sie panisch.
33 Der Turmalin, ein borhaltiges Magnesium-Aluminiumsilikat von kompliziertem Aufbau, ist durchsichtig bis opak, unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, wechselt die Farbe. (Pleochroismus). Durch Wärme lädt er sich auf (pyroelektrische und piezoelektrische Eigenschaften), ist widerstandsfähig und farbbeständig; bei der Doppelbrechung des Lichtes wird ein Teil der Strahlen absorbiert. Hohe Absorption kann den Stein allmählich nachdunkeln lassen, doch behält er seine Farbe. Die hier verwendeten Steine stammen aus Madagaskar. Zum Turmalin siehe die ausführliche Monographie von Friedrich Benesch, Der Turmalin. 2. verbesserte Aufl., Urachhaus, Stuttgart 1991; auch Paul Rustermeyer, Faszination Turmalin. Formen Farben Strukturen, Spectrum Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin 2003.
34 Polke hat an dieser Stelle ihre natürliche Zeichnung so in die Komposition integriert, dass der Eindruck entsteht, der Turmalin durchleuchte den Stängel der Pflanze, die sich über den Bock biegt und verfärbe ihn.
35 Eine gewisse zusätzliche künstliche Beleuchtung erhellt im Wesentlichen die Wand unterhalb der hoch sitzenden Fenster mit gelblichen Strahlern und dient der Grundbeleuchtung im hinteren und seitlichen Kirchenraum.

Der Text der Laudatio erschien in erweiterter Fassung in:
Sigmar Polke. Fenster - Windows. Grossmünster Zürich, Parkett Verlag, Zürich 2010

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