Bernhart Schwenk
Leiter der Sammlung Gegenwartskunst an der Pinakothek der Moderne, München

Festhalten und Entgleiten. Zur Verleihung des Roswitha Haftmann-Preises 2008 an Douglas Gordon

Erinnerungen erzeugen merkwürdige Bilder. Es sind eindrückliche Erscheinungen, emotional und atmosphärisch. Aber: sie haben keine fest umrissene Form. Es fehlt ihnen an Schärfe, Dichte, Kontur. Erinnerungen sind veränderlich, gleichzeitig aber auch fast unheimlich statisch, als habe es in jener Zeit, auf die sich ihr Fokus richtet, nie Bewegung oder Wandel gegeben. Erinnerungen erscheinen zunächst farbig zu sein, aber je stärker man sich auf sie konzentriert, umso blasser wird das Kolorit, bis es umschlägt in Schwarzweiss oder das Bild völlig verschwindet. Je mehr man versucht, eine Erinnerung zu greifen, umso mehr entgleitet sie einem, bis man daran zweifelt, ob das zurückgeholte Bild tatsächlich konsistent ist – oder nicht doch ein Hybrid: zusammengesetzt aus der Wunschvorstellung, wie das ursprüngliche Ereignis lieber oder besser hätte verlaufen sollen, und dem retrospektiven Wissen, wie es sich dann später tatsächlich weiter entwickelte. Erinnerungen, so mag einem spätestens jetzt dämmern, sind Blicke in den Rückspiegel der Zeit, ausschnitthaft und verzerrt, manipuliert von uns selbst: frisierte Bilder, Imaginationen, Projektionen.
Über das merkwürdige Aussehen von Erinnerungen habe ich nachgedacht, als ich mir versuchte zu vergegenwärtigen, wann und unter welchen Umständen ich Douglas Gordon, der heute zu Recht mit einem der wichtigsten internationalen Kunstpreise ausgezeichnet wird, zum ersten Mal begegnet bin. So klar und unumstösslich der Zeitpunkt dieser ersten Begegnung ist, so vage sind die Einzelheiten darum herum, so verschwommen erscheint mir der genaue Ablauf aus der zeitlichen Distanz. Die Erinnerung führt nach Frankfurt, in den dortigen Kunstverein und die Schirn Kunsthalle, und die fragliche Begegnung muss auf den Tag genau vor 15 Jahren stattgefunden haben. Ich erinnere mich unter anderem an Douglas Gordons für mich ungewohnten schottischen Akzent, der die Worte innerhalb der Sätze hüpfen lässt wie bei einem Springtanz. Vor allem aber erscheint vor meinem inneren Auge eine frühe Arbeit des Künstlers, eine hohe Wandfläche, blau gestrichen, gewissermassen die Projektionsfläche einer Blue Box, auf der die folgenden Satzfragmente zu lesen waren:
«Diejenigen, die ich niemals kennen werde /
Diejenigen, die ich vergessen habe und an die ich mich niemals mehr erinnern werde /
Diejenigen, die ich gerne kennen würde /
Diejenigen, die ich nicht kenne /
Diejenigen, die ich nicht kennen kann /
Diejenigen, die ich nicht kennen will /
Diejenigen, die ich vergessen habe, an die ich mich aber wieder erinnern werde»
Was hat Douglas Gordon mit diesen Wendungen genau gemeint? Geht es um Worte? Um Ereignisse? Personen? Ich denke, das ist nicht wirklich entscheidend. Wesentlich ist, dass uns der Künstler mit diesen Worten eine Welt vor Augen führt, die um ein Vielfaches grösser ist als die, die wir sehen und zumeist für vollständig halten, sogar grösser als die, die wir uns vorstellen können. Es ist die gleichrangige Einbeziehung von Möglichkeiten in unser Bewusstsein von Realität, die Einbeziehung von nie realisierten, kurz in Erwägung gezogenen, verworfenen, verpassten Gelegenheiten. Es ist die Veranschaulichung von Gewissheit im Angesicht der Ungewissheit, die Verfügbarmachung von Wünschen und Befürchtungen, vor allem der unbewussten. Eine Welt ohne Ufer, ohne Anfang, ohne Ende. Die Welt als Potential und unbegrenztes Territorium der Vorstellung, eine Welt, in der man orientierungslos verzweifeln könnte, wenn deren Weite nicht auch Freiheit bedeuten könnte.
Ich habe mir den Ausstellungskatalog von 1993 noch einmal hervorgeholt und den Text nachgelesen, den Douglas Gordon als seinen Beitrag zu dieser Publikation selbst geschrieben hatte. Ich weiss noch, dass mich die Impertinenz des damals 27jährigen Künstlers beeindruckt hat, denn der Text schien nichts mit der ausgestellten Arbeit zu tun zu haben, geschweige denn, direkte Hinweise auf die künstlerische Intention zu geben. Vielmehr konfrontierte Douglas Gordon seine Leser mit den Eindrücken seiner ersten Reise nach Frankfurt, wohin der Künstler damals zu einer Ausstellung eingeladen worden war. Eine seltsame, geradezu bösartige, in jedem Fall aber ziemlich unhöfliche Geschichte, denn weder die Stadt Frankfurt noch der Gastgeber und Kurator, weder das einfache Hotel, in dem der Künstler untergebracht war, noch das Frankfurter Essen, ja noch nicht einmal das Frankfurter Wetter kommen darin gut weg. Alles erscheint in einem fahlen, ungünstigen Licht – und wie in einem Alptraum lässt einen Douglas Gordon die Ereignisse plastisch nacherleben, wobei die Zusammenhänge und Gründe sich jeder klaren Form entziehen, sie entgleiten, verblassen. Was zurück bleibt, ist ein merkwürdiges Gefühl – das Bild einer unangenehmen Erinnerung. Aber mit Sicherheit auch ein Bild, das farbiger und detailreicher ist, als es die Realität je sein konnte.
In vielen seiner Arbeiten begibt sich Douglas Gordon in ein solches Zwischenreich der Wahrnehmung, zwischen Endgültigkeit und Offenheit, Erinnerung und Erfindung, Wahrscheinlichkeit und Unmöglichkeit. «List of Names» ist eine solche Arbeit. Alle Namen von Personen, die Douglas Gordon seit 1990 getroffen hat, hat er in dieser Arbeit aufgelistet, ganz gleich, ob diese Begegnungen für ihn bedeutsam waren oder nicht – und er listet sie weiter auf, denn die Arbeit wird erst mit dem Tod des Künstlers ihren Abschluss finden. Tausende Menschen, Tausende von Namen hat Douglas Gordon in Kolonnen angeordnet, aber nicht alphabetisch wie die Opfer einer Katastrophe oder sonst wie systematisch, sondern genau so, wie das Leben – bzw. die Erinnerung – sie ihm zuspielte – Menschen also, an die er sich noch erinnern kann, mal mehr, mal weniger. Nicht «In the order of appearance», wie es im Abspann eines Kinofilms heisst, sondern «In the order of memory».
«Mein Werk hat mit Wahrnehmung zu tun – oder mit den Mechanismen der Wahrnehmung...», hat Gordon in einem Interview einmal gesagt und hinzugefügt, dass ihn dabei vor allem die Unregelmässigkeiten und Funktionsschwächen der menschlichen Wahrnehmung interessieren, bis hin zu jenen Grenzbereichen, in denen die Wahrnehmung stockt, abbricht oder ganz aufhört. Genau in diesen Bereichen menschlichen Fühlens und Denkens kann etwas Neues, Anderes entstehen, es sind Bereiche der Wahrnehmung, die erst durch Missverständnisse, Fehlinformationen, Vorurteile, Sehstörungen, Erinnerungslücken usw. erschlossen werden können.
Die Auflistung aller Namen von Personen, die Gordon jemals begegnet sind, ist also nur vordergründig eine Statistik, sie kann nicht als solche funktionieren und führt zu völlig anderen als quantitativen Erkenntnissen: Was bedeutet Bekanntschaft, wie lange dauert Bekanntheit? Sind auf der «List of Names» tatsächlich alle erinnerten Begegnungen festgehalten – oder gibt es noch mehr Personen, die aber absichtlich und bewusst nicht auftauchen? Möglicherweise gibt es Menschen, die dem Künstler so nahe stehen, dass er sie vor lauter Nähe vergessen hat aufzuführen. Welchen Klang hat ein Name, welche Geschichte kann eine Gruppe von prominenten Namen erzählen? Welche Verbindungen gibt es zwischen dem Künstler und den jeweiligen aufgeführten Personen, welche Gemeinsamkeiten zwischen den Genannten und den Lesern der Liste? In jedem Fall braucht das Lesen der Namen Zeit, viel Zeit, und die Lektüre erweist sich möglicherweise als Zeitverschwendung. Denn scheinbar führt sie zu nichts. Doch auch diese Arbeit von Douglas Gordon zielt auf etwas anderes, sie ist der Versuch festzuhalten, was nicht zu halten ist, und veranschaulicht, dass sich Geschichte nicht ohne Unschärfen schreiben lässt, dass sich Geschichte im Gehirn jedes Einzelnen so lange sedimentiert, bis sie ihre jeweils eigene Form gefunden hat. Und sie lässt unabhängig von der puren und letztlich trockenen Addition von Buchstaben ein differenziertes Bild entstehen, das von etwas ganz anderem handelt als es die abstrakten Zeichen zunächst vermuten lassen.
Mit seinen Schriftarbeiten und imaginierten Räumen, die seit Anfang der neunziger Jahre entstanden, steht Douglas Gordon in Verbindung zur Konzeptkunst der achtziger Jahre, zu Lawrence Weiner etwa, zu Dan Graham oder On Kawara. Und doch lassen sich Gordons Arbeiten eindeutig als die einer nachfolgenden, jüngeren Künstlergeneration identifizieren, einer Generation, die mit den unterschiedlichen und parallelen Ebenen des Medialen, vor allem mit dem Fernsehen als Doppelgänger des Kinos aufgewachsen ist. Es ist die Künstlergeneration, für die das Remake keine blosse Wiederholung bedeutet, die mit digitalen Bildtechniken operieren und diese selbstverständlich mit den älteren Medien, der Fotografie, dem 8-, 16- und 35-mm Film oder dem Video kombinieren. Douglas Gordons Arbeiten sind somit paradigmatisch für künstlerisches Denken im Medienzeitalter des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts.
Ich konfrontiere Sie mit einem Bildmotiv, dass Sie genau kennen. Es ist das Bild des schönsten Wolkenkratzers der Welt, des Empire State Building, erbaut vor fast 80 Jahren und seither architektonisches Nationalsymbol Amerikas – abgebildet auf unzähligen Postkarten, Postern, Urlaubsfotos und in Hollywoodfilmen. Auch den speziellen Ausschnitt von diesem Gebäude könnten Sie bereits einmal gesehen haben. Denn der Ausschnitt wiederholt eine Kameraeinstellung von Andy Warhol, er zitiert dessen legendären 16-mm-Underground-Klassiker «Empire», 1964 in Schwarzweiss gedreht. Acht Stunden richtete Andy Warhol seine Kamera damals auf den oberen Teil des Gebäudes – und das einzige, was in dem Film für das Auge erkennbar passiert, ist der langsame Wechsel des Tageslichts. Es ist bemerkenswert, dass Warhol bei dieser Arbeit zum dynamischen Medium des Films griff und nicht zur Fotografie, geht es hier doch gerade nicht um Aktion und Handlung. Geht es auch nicht: denn Andy Warhols Interesse galt der Verkörperung eines Objekts durch sein Bild. Gerade in der suggestiven Beschwörung des Kamerablicks, der mit dem des Betrachters identisch wird, steckt die Intention. Wirkt dieser Stummfilm zunächst wie eine dokumentarische Abfilmung, die sich bewusst jeder Illusion verweigern will, führt gerade die Reduktion des Gesehenen dazu, die Bedeutung des im amerikanischen Nationalstolz tief verankerten Gebäudes aufzulösen – oder zu erweitern. Das Standbild korrespondiert mit dem prozessualen Vorgang des Anschauens, wird zu einer abstrakten Form, zu einer doppeldeutigen Metapher für Zeitlosigkeit und Vergänglichkeit von geradezu religiöser Ausstrahlung, von Aura.
Doch ist das, was Sie hier sehen, natürlich nicht der Warhol-Film. Es ist ein Installationsfoto vom 17. Juni 2007, als Douglas Gordons brandneues Video «New Colour Empire» auf dem Dach der Julia Stoschek Collection in Düsseldorf erstmals gezeigt wurde. Douglas Gordon re-inszeniert den Warhol-Film in Farbe und verdoppelt ihn, indem er beide Projektionen leicht versetzt übereinander blendet. Mit dem doppelten Wolkenkratzer zitiert Douglas Gordon nicht nur den «Empire»-Film, sondern auch eine weitere signifikante Arbeitsweise von Andy Warhol. Auch Warhol multiplizierte seine Motive – seine Jackie Kennedys und Marilyns, seine elektrischen Stühle und Coca-Coladosen. Mit diesem Verfahren der Vervielfältigung führte Warhol Omnipräsenz und unbeschränkte Verfügbarkeit des massenmedialen Bildes in die Kunst ein. In diesem Verständnis interessiert sich auch Douglas Gordon bei seinem «New Colour Empire» erst in zweiter Linie für den berühmten Wolkenkratzer. Hauptsächlich geht es ihm um dessen symbolische Bedeutung und den Umgang mit seiner Reproduktion. So ist «New Colour Empire» vor allem ein Bild vom Bild, aus dem wiederum ein weiteres Bild entsteht: Neu («New»), in Farbe («Colour») und: doppelt. Auf gespenstisch schemenhafte Weise scheinen in dieser Konstellation die 2001 eingestürzten Twin Towers des World Trade Center wiederzukehren. Zu Andy Warhols Zeit war das Empire State Building das höchste Gebäude New Yorks, seit 2001 ist es das erneut. Ist «New Colour Empire» demnach als trotzige Antwort zu verstehen, als Provokation und Resistenz? Oder vielleicht doch als Ausdruck eines Phantomschmerzes, als fiebrige Psychose, als Fata Morgana?
Wie oft haben wir gelesen, dass die Geschehnisse des 11. September der westlichen Welt die in Hollywood gebastelten Katastrophenvisionen vor Augen geführt haben, und wir ahnen, dass die Bilder der einstürzenden Hochhaustürme uns deshalb so stark berühren, weil sie ein ikonisches Déja-vu darstellen. Sie schienen bereits ins kollektive Bildgedächtnis eingebrannt, bevor sie von der Realität quasi überschrieben wurden – wie ein unbarmherziges Update.
Für mich ist «New Colour Empire» von Douglas Gordon eine der intelligentesten künstlerischen Verarbeitungen des Traumas vom 11. September. Denn dieses Trauma besteht weniger in den realen Ereignissen, deren Vorgeschichte, Hintergründe und Konsequenzen in den vergangenen sieben Jahren nicht wirklich überschaubarer geworden sind. Dieses Trauma besteht vor allem in einer Niederlage, die mit eigenen Waffen herbeigeführt wurde. Die westliche Zivilisation wurde von der Wucht der Ästhetik getroffen, die das eigene Selbstverständnis definiert. Sie wurde geblendet von einer entsetzlichen Spiegelung der eigenen Bilder, die ihr wie eine monströse Fratze vorgehalten wurden.
In diesem Zerrspiegel erweisen sich die Grund- und Gegensätze von Gut und Böse, Echtheit und Falschheit, Wahrheit und Inszenierung als reine Fiktion. Als abstrakte Begrifflichkeiten und Orientierungspunkte existieren sie sehr wohl. Doch lösen sich die Grenzen ihrer Territorien zunehmend auf. Den einst exklusiven Bildern der individuell und unmittelbar erlebten Realität stehen heute die ungleich mächtigeren Bilder der Medien – des Fernsehens, der Zeitungen, des Internets und (auch immer noch) des Kinos – gegenüber, und sie bemächtigen sich unserer Vorstellungen, Träume, Alpträume und Erinnerungen mehr als uns das lieb ist – und mit grösseren Konsequenzen, als wir das heute überhaupt absehen können. Douglas Gordon gehört zur ersten Generation von Künstlern, die sich mit diesen noch weitgehend bevorstehenden, fundamentalen Bewusstseinsveränderungen unserer Zivilisation auseinandersetzen. In all den Arbeiten von Douglas Gordon wird die Konfrontation der persönlich erlebten und bewerteten Erfahrungen mit den vermittelten, gewissermassen adoptierten, ausgetragen. In besonders signifikanter Weise kommt dieser Kampf in seiner Videoinstallation «Between Darkness and Light (After William Blake)» zum Ausdruck, bei der zwei Spielfilme gleichzeitig und in voller Länge von unterschiedlichen Seiten auf eine gemeinsame Leinwand projiziert werden. Bei dem einen Film handelt es sich um Henry Kings «Song of Bernadette (Das Lied von Bernadette)» von 1943, bei dem anderen um William Friedkins «The Exorcist», dreissig Jahre später entstanden. In beiden Filmen steht ein Mädchen im Mittelpunkt, das übersinnliche Erfahrungen macht. Henry King erzählt die Geschichte der (späteren Ordensschwester und Heiligen) Bernadette, der als jungem Mädchen die Jungfrau Maria erschienen sein soll. Bernadette bringt damit ein Dorf in Aufruhr, denn die geheimnisvollen Marien-Erscheinungen spalten dessen Bewohner in Gläubige und Ungläubige. William Friedkin hingegen dokumentiert die Geschichte eines Exorzismus. Auch hier steht ein Mädchen im Bann einer transzendentalen Macht. Hier jedoch ist es ein böser Dämon, dessen Existenz auch die Existenz Gottes beweisen würde, was für einen aufgeklärten Jesuitenpater und Psychologen ein echtes Problem darstellt. Die Gleichzeitigkeit der Projektion auf dieselbe durchscheinende Leinwand lagert beide Filme übereinander und lässt die gegensätzlichen Aspekte der vergleichbaren Geschichte fast ununterscheidbar ineinander fliessen. Glauben, Aberglauben, Okkultismus und Aufklärung ringen um die ästhetische Vorherrschaft, doch die Bilder bleiben in einem Konflikt gefangen, der sich als unentscheidbar erweist. Die Installation ist übrigens 1997 für die «Skulptur Projekte Münster» entstanden, für jene Stadt also, die im 16. Jahrhundert das «Neue Jerusalem» der Wiedertäufer war. Bewusst hat Douglas Gordon diese Arbeit für einen Ort konzipiert, der selbst einmal Schauplatz extremer Glaubenskämpfe war.
Im Werk wohl jedes bekannten Künstlers gibt es das entscheidende Werk, den Hit, der zu seinem irreversiblen Ruhm beigetragen hat. Und natürlich gibt es dieses Werk auch bei Douglas Gordon: «24 Hours Psycho» ist seine ureigene Adaption des Klassikers «Psycho» von Alfred Hitchcock, dessen Abspielgeschwindigkeit er auf 24 Stunden gedrosselt hat. Douglas Gordon hat den 109-minütigen Thriller auf diese Weise in ein gigantisches Epos von mehr als zwölffacher Länge verwandelt. Die Einstellungen des Films verfliessen nicht mehr, vielmehr wird jedes einzelne Bild deutlich sichtbar, zwei Stück pro Sekunde – bei sonst 24. Jedes Detail, jeder Gesichtsausdruck, jede Geste wird so geradezu zelebriert und überdeutlich gezeigt. Und doch ist jede Bewegung und damit auch jede Spannung daraus entwichen, die den ursprünglichen Film kennzeichnet. Der Zusammenhang der Erzählung löst sich auf, das Vertraute wird unüberschaubar, das Unheimliche noch einmal mehr verfremdet – auch, weil der Ton komplett wegfällt und sich eine beklemmende Stille breit macht. Mit sinkender Spannung aber wächst das Gefühl einer physischen Bedrohung, indem nämlich der neu entstandene Film in unmittelbare Konkurrenz zu den Rhythmen des realen Lebens tritt.
Jedoch sprengt dieser Film die Grenze zur Echtzeit, geht sogar weit darüber hinaus. Schon sein Titel legt den Finger in die Wunde, indem er auf die grundsätzliche Unterlegenheit des Films als zeitliches Medium verweist. Der Film bleibt im Unterschied zum Leben immer Illusion, ist ein nur vorgespieltes Gefühl von Echtzeit. Gegen diese Differenz versucht jeder Film anzukommen – durch Tempo, Schnitt und Ton, die er derart kombiniert, verdichtet, übereinander legt, bis sich die Sinne betäuben und einen die erfundene Handlung «als real» gefangen nimmt. Aus dieser Betäubung lässt Douglas Gordon den Zuschauer erwachen – während allerdings die Operation noch in vollem Gange ist. Der Titel seines Films erinnert an die rund um die Uhr geöffneten Geschäfte und Restaurants – «Open 24 Hours» – und entlarvt das Leben als einen Thriller, dem niemand entrinnen kann. «Psycho», das Grauen, ist darin jederzeit verfügbar, ist allzeit bereit – was kein wirklich beruhigender Gedanke ist. Nicht umsonst ist «24 Hours Psycho» eine der Video-Ikonen der 1990er Jahre geworden.
Noch einmal möchte ich eine Grundauffassung von Douglas Gordon wiederholen: «Mich interessiert, wie die Wahrnehmung sich aufbaut und wieder zusammenbricht (...) Wir halten sie für etwas Selbstverständliches und wissen doch, wie fragil sie ist.» Wie eine analoge Bestätigung dieser Sichtweise wirkt Douglas Gordons Installation «Play Dead, Real Time». Für diese hat er einen Zirkuselefanten in seine New Yorker Galerie bringen lassen und ihn gefilmt. Der Elefant vollführt ein einstudiertes Kunststück, bei dem er sich auf den Boden fallen lässt, dort liegen bleibt und dann wieder aufsteht. Eigentlich eine einfache Dressurnummer, doch Gordon fängt sie raffiniert ein und präsentiert sie auf ganz besondere Weise: Auf zwei riesigen, frei im Raum stehenden Leinwänden und einem Monitor gleichzeitig sehen wir das kolossale Tier, wie es sich um sich selbst dreht, wie es niedersinkt, wie der urtümliche Leib flach am Boden liegt, sekundenlang, ohne das geringste Zucken des Rüssels. Kein Zweifel: das Tier spielt seinen eigenen Tod. Immer wieder kreist der Betrachter um die beiden grossen Leinwände, deren projizierte Bilder ebenfalls ein Kreisen zeigen. Denn die unterschiedlichen Kameras umfahren den Elefanten ohne anzuhalten, die eine links, die andere rechts herum. Ein Bewegungssog entwickelt sich, dem man sich nur schwer entziehen kann. Unweigerlich werden das Niederlegen des Elefanten, das reglose Auf-dem-Boden-Liegen, das taumelnde Wiederaufschwingen und das erneute Niedersinken zur Metapher, für das Leben, die Aufs und Abs im ewigen Wechsel, zwischen Aktivität und Schlaf, Leben und Tod. Die sich wiederholende Szene erhält hier etwas Schwebendes, der massige Körper des Elefanten, der grosse gutmütige Kopf, die schweren Beine – sie wirken geradezu federleicht. Mit seiner zerklüfteten Haut wirkt das monumentale Tier wie aus einer ursprünglichen Welt, ausgestattet mit einer Urkraft, die nicht zu bändigen ist. Und doch folgt das Wesen gehorsam den Regeln, die nicht die seinen sind. Eine nachgespielte Studie der realen Rastlosigkeit, der ständigen Bewegung, jenes Rituals, das wir Leben nennen.
Es ist abermals das Medium des Films, das alle konventionellen Parameter unserer Wahrnehmung verändert, die Vorstellungen von Masse und Materie, von Raum, von Zeit. Auch mit dieser Arbeit führt Gordon sein Publikum in ein Zwischenreich der Möglichkeiten, die Welt anders zu sehen, als ein Spiel der gegensätzlichen Kräfte in einer bezwingenden Realität der Bilder, in der freie und unfreie Bewegungen, Plumpheit und Anmut, Hoffnung und Verzweiflung ununterscheidbar werden.
Einen Medienkünstler könnte man Douglas Gordon nennen, doch bei genauerer Betrachtung lässt sich erkennen, dass das eine nur ungenaue Bezeichnung für die Vielfalt seines Schaffensspektrums ist. Immer wieder neu lässt er sich auf den spezifischen Raum ein, manipuliert er die Zeit, beraubt Gordon den Betrachter seines gewohnten Standpunkts. Er benutzt Found Footage, vorgefundenes Filmmaterial unterschiedlicher Herkunft, aus dem Kino vor allem, aber auch aus der Wissenschaft, etwa der Pathologie, und er filmt auch selbst. Sein Material wiederum setzt er bewusst ein, er vergrössert oder verkleinert es, er zerdehnt, kürzt, multipliziert und spiegelt es, lässt es überlagern oder hängt es in einen Loop. Seine neu entstehenden Bilder bewirken vor allem eines: ein Nachdenken über unsere oft verfahrenen Vorstellungen und Handlungen, die Fallen unserer Wahrnehmung. Es sind übergreifende Reflexionen über das Bild im Allgemeinen, die Spielräume für alternative Handlungen eröffnen. Festhalten und Entgleiten sind dabei wechselseitige Prinzipien, entscheidende Leitmotive nicht nur in der Kunst von Douglas Gordon, sie gelten gleichermassen für unser aller Leben. In diesem Sinne wird auch die hohe Auszeichnung, die Douglas Gordon an diesem heutigen Abend erhält, für den Künstler sicher kein Ausruhen und Festhalten für immer bedeuten. In jedem Fall aber stellt dieser Preis ein kurzes Innehalten dar auf einem Weg voller Unberechenbarkeit und Inspiration, und sie bedeutet grossen Dank für das bereits Geschaffene und Ansporn für alles Kommende.