Dr. Philip Ursprung
Laudatio auf Carl Andre und Trisha Brown aus Anlass der Verleihung des Roswitha Haftmann-Preises 2011 am 5. Mai 2011 im Kunsthaus Zürich
Vom Objekt zum Prozess
Diesen März sah ich in der Barbican Art Gallery in London eine Wiederaufführung von Trisha Browns legendärer Performance «Walking on the Wall aus dem Jahre 1971. Die Performer schienen direkt über meinem Kopf zu schweben. Waagerecht, mit Seilen und Gurten gesichert, bewegten sie sich vor und zurück der Wand entlang. Am Anfang waren ihre Bewegungen zaghaft, mit der Zeit wurden sie sicherer. Immer, wenn sie zur Ecke des Saales gelangten, mussten sie ein wenig Anlauf nehmen und hingen einen Moment frei in der Luft. Als Zuschauer war ich einerseits erleichtert, nicht in dieser prekären Lage zu sein. Andererseits hätte ich diese ungewöhnliche Erfahrung gerne selber gemacht und beneidete die Akteure darum, mitspielen zu dürfen. Ich nahm die Figuren, die sich der Wand entlang bewegten, wie ein Bild wahr vom Leben auf der Strasse, geprägt von zufälligen Begegnungen und unterschiedlichen Rhythmen. Und zugleich wurde ich, gemeinsam mit den anderen Zuschauern im Saal selber zu einem Teil dieses Bildes. Wir spürten, wie die Performer sich konzentrierten, um ihre Bewegungen zu kontrollieren. Und wir mussten schmunzeln, wenn wir sie lachen sahen, weil sie sich in die Quere kamen oder sich überholten. Durch eine kleine Verschiebung von der Waagerechte in die Senkrechte hatte Trisha Brown es erreicht, ihre und unsere Wahrnehmung einer alltäglichen Verrichtung, des Gehens, radikal zu verändern.
Auf derselben Reise besuchte ich auch die Tate Modern. In der Sammlung stiess ich auf Carl Andres Bodenskulptur «Steel Zinc Plain (1969). Wie immer, wenn ich eine seiner Bodenskulpturen sehe, zögerte ich einen Moment. Ich weiss, dass seine Kunstwerke dazu da sind, betreten zu werden. Aber wissen es auch die Aufseher? Sind die Werke inzwischen so wertvoll geworden, dass die Restauratoren es nicht mehr zulassen, dass sie berührt werden? Ich gab mir einen Ruck und betrat die Fläche. Niemand hinderte mich daran. Ich meinte, eine ganz leichte Bewegung zu spüren, als ob die Platte nicht ganz plan auf dem Untergrund läge. Im Unterschied zum Zementboden war die Metalloberfläche glatt. Ich ging ein paar Schritte, darauf bedacht, nicht zuviel Druck auszuüben, um die Platten nicht zu verschieben. Die Schritte auf dem Metall klangen anders als diejenigen auf dem Boden. Wie unterscheidet sich das Geräusch eines Schrittes auf Beton vom Schritt auf Stahl oder Zink? Ist nicht Zink das weichere Material, dasjenige, das früher für die Abdeckung von Bars und für Spühlen verwendet wurde? Kann man das durch die Schuhsohlen hindurch spüren? Obwohl das Metall zweifellos robust war und die schachbrettartige Ordnung einfacher nicht sein könnte, erfuhr ich das Kunstwerk als etwas Fragiles, etwas, das jederzeit auseinanderbrechen könnte. Wie Trisha Browns Performance «Walking on the Wall stellte auch Andres Bodenskulptur die Selbstverständlichkeit, mit der wir gehen und stehen, in Frage.
Wie kommt es, dass die Begegnung mit Kunstwerken von Trisha Brown, beziehungsweise Carl Andre, nichts Antiquiertes hat? Woher rührt ihre Brisanz, ihre Gegenwärtigkeit? Warum erfahren wir sie als heute etwas Zeitgemässes, obwohl wir wissen, dass sie vor vierzig Jahren entstanden sind? Ein Grund für die anhaltende Wirkung von Andres und Browns Oeuvre ist, dass ihre Kunstwerke elementare menschliche Bewegungsabläufe betreffen. Sie handeln von Dingen, die uns alle angehen. Sie drehen sich um alltägliche Handlungen wie das Stehen, das Gehen, das Werfen, das Legen, das Stapeln, das Ziehen. Es sind Verrichtungen, mit denen wir uns Platz verschaffen und uns innerhalb unserer Umgebung und unserer Mitmenschen definieren. Sie sind uns seit dem Kindesalter derart vertraut, dass wir ihnen kaum noch Aufmerksamkeit schenken und uns ihrer erst dann gewahr werden, wenn sie unterbrochen werden. Brown und Andre gehören zu derjenigen Generation von Künstlern, die zu Beginn der 1960er Jahre versuchten, den Ort des Subjektes neu zu artikulieren. Man kann dies als Sprengung der Konventionen der Malerei bezeichnen, als Verschmelzung der Kunst mit dem Leben oder als Bruch mit den Werten des Modernismus. Allen diesen Künstlern gemein war, dass sie den eigenen Körper einsetzten, um eine Kunst zu schaffen, die nicht absolut und selbstbezogen sein sollte, sondern unmittelbar im Hier und Jetzt verankert. Die Künstler konzipierten ihre Werke nicht als losgelöste Endprodukte, sondern als Handlungen, als Prozesse. Sie entsprachen damit einer allgemeinen, noch immer gültigen Verschiebung der Wertvorstellung, nämlich die Idee, dass die Produktion mehr gilt als das Produkt. «Nur das, was sich verändert, bleibt», heisst es bei Allan Kaprow. «Woran arbeitest du gerade», wollen heute von einender wissen, nicht, «was hast du getan?»
Dies heisst keineswegs, dass die Künstler jener Zeit die Realität der Industriegesellschaft verwarfen und sich auf die eigenen Körper zurückziehen wollten. Im Gegenteil, die Idee der kontinuierlichen Bewegung ist undenkbar ohne die Industrialisierung. «Ich will eine Maschine sein» sagte Andy Warhol, stellvertretend für seine Zeitgenossen. Die Kunst von Andre und Brown ist denn auch durch und durch urban. Sie ist untrennbar mit New York verbunden, der Hauptstadt des 20. Jahrhunderts, der «Fieberkurve des Kapitalismus», wie Rem Koolhaas einmal sagte. Ihre Kunst ist geprägt von der Segmentierung von Zeit und Raum als Folge der modernen Arbeitsteilung und Entfremdung. Angesichts von Carl Andres «10 x 10 Altstadt Rectangle» meint man das Hämmern der Maschinen und das Rattern der Fliessbänder zu vernehmen. Seine Gedichte und Sprachspiele evozieren den Takt der Fabriken, die Rohheit der Schwerindustrie und sie evozieren zugleich den binären Code, das lapidare «Ja/Nein» des Computers. Am besten kommen die räumlichen Werke denn auch vor dem Hintergrund der leeren Fabrik zur Geltung. Das Loft, die Fabriketage, aus der die Maschinen und Arbeiter verschwunden sind, ist die ideale Bühne für die Kunst, welche vom Drama des Postindustriellen aufführt. Denn «postindustriell» heisst ja nicht nur, dass die Maschinen und die Arbeiter aus dem Gesichtsfeld verschwunden sind, sondern auch, dass wir die Produktion, ja die Arbeit überhaupt, nicht mehr adäquat darstellen können. Die Erfahrung von Prozessen ist für uns ja auch deshalb so faszinierend, weil sie unter der Abdeckhaube von Prozessoren verschwunden und immateriell geworden sind.
Ein wichtiges strukturelles Element von Andres Kunst ist, dass die Artefakte aus einzelnen Modulen bestehen, die untereinander beliebig austauschbar sind. Es gibt keine Hierarchie innerhalb der Kunstwerke. Das Prinzip der Komposition – also das Anordnen der Binnenelemente unter einem Rahmen, das Erzeugen von Spannung durch die Gegenüberstellung einzelner Elemente – wird ersetzt durch eine Addition von immer gleichen Modulen, die sich – zumindest theoretisch – endlos addieren lassen. Die einzelnen Backsteine von «Equivalent VIII» (1966) haben innerhalb des Kunstwerkes keine vorgegebene Position. Die Holzbalken für «Post, Lintel and Threshold» (1971) können gemäss dem vorgegebenen Muster jederzeit neu arrangiert werden. Wie auch seine Zeitgenossen Donald Judd oder Frank Stella verwirft Andre das sogenannte «Relationale», also die Komposition aufeinander bezogener Binnenelemente, die einem übergeordneten Rahmen unterworfen sind, zugunsten des «Nicht-Relationalen», also die nicht hierarchische Anordnung von Modulen. Er hebt die Skulptur vom Sockel, während Stella das Gemälde aus dem Rahmen nimmt. Die Räumlichkeit des Kunstwerkes ist dieselbe wie diejenige der Umgebung und der Betrachter. Deshalb sind jene Aufnahmen, welche diese Kunst zusammen mit anderen Werken und Betrachtern zeigen, beispielsweise der Ausstellung Amerikanische Raumkunst im Kunsthaus Zürich 1969 überzeugender als diejenigen, welche die Werke losgelöst vom Kontext zeigen. Im Unterschied beispielsweise zu Max Bill, dessen Skulpturen stets eine autonome Räumlichkeit aufweisen und massstäblich beliebig verkleinert oder vergrössert werden können, bleiben die Skulpturen von Andre immer auf den realen Raum bezogen, sowie auf das menschliche Mass. Sie sind, im Unterschied beispielsweise zu Bills «Pavillon Skulptur» (1983) an der Zürcher Bahnhofstrasse anthropomorph. Bills Skulptur folgt einer eigenen Gesetzlichkeit, sie könnte im Grunde genommen irgendwo stehen. Andres Skulpturen hingegen artikulieren die Räumlichkeit, die sie umgibt. Sie verdeutlichen jede Schwäche der Architektur, des Arrangement wie unter einer Lupe. Das macht das Kuratorien, also das Platzieren der Werke für eine Ausstellung zu einer speziellen Herausforderung.
Das Motiv der menschlichen Arbeit durchzieht das Oeuvre sowohl von Andre wie von Brown. Die Gesten der Performer, beziehungsweise die Handlungen des Bildhauers, sind nicht beliebig, sondern durchaus zielgerichtet. Es geht um das Stapeln, das Ordnen, das Schichten. Trisha Browns «Leaning Duets» (1970, 1971) funktionieren wie eine Skizze für eine Skulptur. Es handelt sich um ein spontanes, spielerisches Experiment von jeweils zwei Akteuren auf der Strasse. Sie sind mittels ihrer blossen Hände, beziehungsweise einer Seilschlaufe verbunden und versuchen, aneinandergelehnt, gemeinsam ein Stück Wegs zu gehen. Das Duett suggeriert Partnerschaft, Vertrauen, und den Versuch, die Balance zu halten. Und zugleich evoziert es den Konkurrenzdruck, das Verschwimmen zwischen Arbeit und Freizeit und den unsicheren Grenzen zwischen dem Bereich des Privaten, des Öffentlichen und des Kommunen. Ein Fehltritt, eine Unaufmerksamkeit, und das Bild des Gleichgewichts kollabiert. Ein Moment des Innehaltens, und die Party ist vorbei. Trisha Browns «Primary Accumulation» (1972), wo vier Performer sich hintereinander an den Strassenrand hinlegen, kann gelesen werden als Versuch, spontan neuen Raum in Anspruch zu nehmen, den Fluss des urbanen Lebens kurz zu stoppen. Und zugleich paraphrasiert es an den von Karl Marx geprägten Begriff der «ursprünglichen Akkumulation», also der «Scheidungsprozess zwischen Produzent und Produktionsmittel» und damit die Triebfeder des Kapitalismus schlechthin.
Diesen Scheidungsprozess, also die Marx’sche Idee der Entfremdung, verbrämen weder Andre noch Brown. Sie wollen das Rad der Zeit nicht zurückdrehen, wie manche ihrer europäischen Zeitgenossen. Sie predigen keine Versöhnung, wie manche Theoretiker, welche sich von der Kunst erhoffen, eine als diskontinuierlich empfundene Gegenwart mit Sinn auszustatten und als kohärent darzustellen. Der menschliche Körper, beziehungsweise das, was dieser erreichen kann, mag ihr privilegiertes Material sein, aber vor der technischen Reproduktion schrecken sie keineswegs zurück. Trisha Brown tanzt mit der Apparatur in ihrer Performance «Homemade» (1966), wo ein auf ihrem Rücken festgebundener Filmprojektor einen Film des Tanzes projiziert. Und auch Carl Andre ist sich der Anwesenheit der Kamera jederzeit bewusst, denn nur sie kann die Handlung festhalten, ja sie als Handlung sichtbar machen. Der ephemere Prozess ist auf die technische Reproduktion angewiesen, das Performative ist ohne Repräsentation nicht denkbar.
Es ist charakteristisch für die Kunst der 1960er und frühen 1970er Jahre, dass sie jene Räume erschliesst, welche noch nicht mit Bedeutung besetzt sind, welche ökonomisch nicht verwertet werden. Manche von Andres Skulpturen aus jener Zeit lassen sich kaum unterscheiden von Dingen, die man auf der Strasse findet, etwa einen Stapel Pflastersteine. Auf dem Boden ausgeschüttete Bausteine wirken wie Abfälle, unbeabsichtigte Reste eines Experiments. Trisha Brown verwendet die Dachlandschaften von SoHo für «Roof Piece» (1971) eine Performance, in der die Tänzerinnen über einige Häuserblocks hinweg ihre jeweiligen improvisierten Gesten imitieren und damit ein Terrain ins Blickfeld rücken, das während Jahrzehnten unsichtbar, ja verdrängt war. Die Stadt wird nicht mehr als System von Zeichen gelesen – man denke an Andy Warhols achtstündige filmische Hommage an New York in Gestalt seines Films «Empire» (1964) – , sondern als Schauplatz konkreter Geschehen. Die Künstler interessieren sich nicht mehr für die Embleme und Symbole, sondern für das, was darunter, oder daneben liegt und in Vergessenheit geraten ist. Der Blick wendet sich ab von den sublimen Bildern der Skyline hin zum Boden, auf die zerschundenen Oberfläche der Strasse. Die Perspektive geht weg vom abstrakten Zeichen und hin zum konkreten Ort. Als der amerikanische Traum in der Rezession Anfang der 1970er Jahre zu zerstieben beginnt, konzipiert Trisha Brown die Performance «Man walking down the side of a building» (1970). Gesichert an einem Seil bewegt sich ein Akteur langsam senkrecht gegen den Boden, verfolgt von den bangen Blicken einer kleinen Gruppe von Zuschauern. Andre, Brown und viele andere, darunter Gordon Matta-Clark, Marie Laderman Ukeles und Laurie Anderson schärfen den Blick auf den Zerfall der Metropole – und zeigen gleichzeitig, wie in den Ruinen das Neue entstehen kann.
Die Kunst von Andre und Brown ist durch und durch pragmatisch im Sinne der amerikanischen Tradition. «Keine Idee, ausser in den Dingen», hatte der amerikanische Dichter William Carlos Williams in seinem epischen Gedicht «Paterson» (1963) geschrieben. Die Anordnung von Carl Andres Werk «Redan» (1964) erklärt sich daraus, dass der Boden der Galerie das Gewicht der Balken in einer kompakten Konfiguration nicht hätte tragen können. Andre entschloss sich deshalb, das Gewicht möglichst über eine breite Fläche zu verteilen. Browns «Leaning Duets» wirken so, als ob eine Gruppe von Performern sich spontan entschieden hätte, etwas gemeinsam zu unternehmen ohne lange vorher darüber nachzudenken. Es gibt keine Differenz zwischen Plan und Ausführung, Idee und Realität. Das Werk verweist nicht auf etwas, das später kommen wird, es verlangt nicht nach Aufschub. Gerade dies macht diese Werke auch heute wieder aktuell. Sie zeugen davon, dass wir den Kräften der sozialen und ökonomischen Veränderung zwar unterworfen sind und wir weder aus unserer Haut noch aus unserer Zeit schlüpfen können. Aber sie zeugen gleichzeitig davon, dass wir alle, überall, hier und jetzt, handeln, und den Gang der Dinge mit prägen können. |