Prof. Thomas Wagner
Lobrede auf Rosemarie Trockel aus Anlass der Verleihung des Roswitha-Haftmann-Preises 2014 am 14. Mai 2014 im Kunsthaus Zürich
Lieber Christoph Becker,
liebe Kolleginnen und Kollegen des Stiftungsrats,
liebe Rosemarie Trockel,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
Anfangen bedeutet: sich festlegen. Wer redet, muss sich entscheiden, eine bestimmte Linie wählen, auf anders verlaufende Wege verzichten. Dabei haben wir – besonders im Reden über Kunst – eines gelernt: Es gibt mehr als nur eine Perspektive, mehr als nur eine Wahrheit. Rosemarie Trockel ist sich dessen sehr bewusst, also gibt ihre Kunst auch keine Verlautbarungen ab, plakatiert keine Meinung und fällt schon gar keine abschließenden Urteile. Stattdessen schafft und entfaltet sie ein Feld konstanter Intensität, auf dem sich scheinbar feststehende Wahrheiten, ja die Konsistenz der Realitäten selbst befragen und in Zweifel ziehen lässt. Ihr künstlerisches Verlangen hat etwas Sokratisches, denn zumeist erscheint ihr der Sinn einer Sache sinnlos, weshalb sich nur sagen lässt, wie etwas nicht ist. So gesehen bringt ihre Kunst Chaos in die bequeme Ordnung der Welt, an die wir uns gewöhnt haben und erschüttert scheinbare Gewissheiten.
Eine Lobrede auf Rosemarie Trockel soll es werden. Das Loben allein kann aber nicht gelingen, ohne sich in die vielgestaltigen künstlerischen Praktiken der Künstlerin zu verstricken. Diese aber sind hier und heute abwesend, was die Anschaulichkeit wohl oder übel einschränkt. Sie müssen sich also an einzelne Arbeiten erinnern, sich die eine oder andere Zeichnung, einige ihrer Woll- oder Strickbilder und ihrer Herdplatten-Objekte ins Gedächtnis rufen, sich Bilder oder Sequenzen aus einem ihrer Videos oder eine ihrer Collagen vorstellen. Sie sollten auch die Eindrücke aufzufrischen versuchen, die Sie beim Besuch ihres 1997 zusammen mit Carsten Höller für die documenta 10 errichteten Environments «Ein Haus für Schweine und Menschen» gewonnen haben, oder das große Auge wiederauferstehen lassen, dem Sie 1999 im zentralen Raum des Deutschen Pavillons der Biennale von Venedig gegenüberstanden. Wer also Rosemarie Trockel und das, was sie seit rund dreißig Jahren vollbringt, loben möchte, der kann nicht umhin, eine, wenn auch kurze und zwangsläufig unvollständige Einführung in ihr Werk zu geben. Was alles andere als einfach ist.
Betrachten wir einzelne Teile ihrer umfangreichen Produktion, so müssen wir feststellen: Ihre künstlerischen Interessen sind breit gefächert. Sie bedient sich verschiedenartigster Medien und Methoden, wählt, was ihr von Fall zu Fall geeignet erscheint. Zu zeichnen scheint für sie aufgrund der Direktheit des Zugriffs eine naheliegende Ausdrucksweise zu sein. Entdeckt sie aber die Möglichkeiten, die sich aus der Arbeit mit einer Videokamera ergeben, so wechselt sie spontan das Feld. Der Prozess, aus dem etwas hervorgeht, steht immer im Mittelpunkt. Hat sie sich jedoch für ein Konzept entschieden, buchstabiert sie es minutiös durch, reizt die Akzentuierungen und Varianten aus, die sich aus ihm ergeben. An einer intensiven Zusammenarbeit mit Künstlerfreunden interessiert sie – besonders bei groß angelegten, organisatorisch und thematisch komplizierten Projekten – die Chance, dass ihre «Persönlichkeit» eine Auszeit bekommt und die Mythen vom kreativen Schöpfer irritiert werden.1 Und in ihren Collagen unterzieht sie einer Revision, was sie gemacht hat, vertieft, was liegen geblieben war und aus einem veränderten Blickwinkel wieder hervorholt werden will.
Auch was Themenkreise und Darstellungsformen angeht, lässt sie sich nicht festlegen. Mal bedient sie sich der kleinen Form, mal der umfangreichen Serie. Mal reichen ihr eine Geste oder eine Andeutung, mal formuliert sie bis ins kleinste Detail aus, was anders nicht zu jener Deutlichkeit und Klarheit fände, die ihr wichtig ist. Häufig waren und sind es Signifikanten des Weiblichen, die sie analysiert – oder besser: aufdröselt wie existenzielle Verstrickungen. Dabei nimmt sie in Kleidern und Strickbildern einerseits «die Entwertung vermeintlich sinnentleerter Symbole»2 in den Blick, versucht andererseits aber auch, dem Entwerteten einen anderen Sinn zu geben. Besonders dann, wenn sie einem Symbol des Weiblichen einen seriellen Charakter verleiht, macht sie sichtbar, wie ein an sich freies Subjekt in ein bestimmtes Muster gezwängt wird, in ein Muster, das selbst wiederum zum Symbol wird für Festlegungen und Prägungen, für die Ausgrenzung und Abwertung weiblicher Tätigkeiten und Eigenschaften. Mit Blick auf die Strickbilder hat sie schon 1988 im Gespräch mit Doris von Drateln deutlich gemacht: «Ich will wissen, ob das negative Klischee überwunden werden kann, wenn der handwerkliche Aspekt aus dem ganzen Komplex herausfällt, wenn das Strickmuster vom Computer gesteuert entsteht. Ich wollte wissen, woran es liegt, dass eine Arbeit früher und heute oft von Frauen als peinlich eingestuft wird, ob das von der Umgehensweise mit dem Material abhängt oder ob das wirklich an dem Material liegt.»3
Zu solch prüfender Störung verfestigter Symbole und Muster gehört auch, dass aus Herdplatten, einem anderen Symbol weiblichen Rollenzwangs, plötzlich serielle und minimalistisch anmutende Bildobjekte werden können.
Wobei, um ein ganz anderes geartetes Beispiel anzuführen, Rosemarie Trockel prägende Muster und die in sie eingeschlossenen Ab- und Umwertungsbewegungen einerseits aus einer konzeptuell geprägten Distanz angeht, andererseits aber auch dezidiert Persönliches einbezieht. So veröffentlichte sie 2006 zusammen mit dem Philosophen Marcus Steinweg ein kleines Bändchen, in dem sie eine Auswahl von Postkarten präsentiert, die ihre Mutter Ruth gesammelt hat. Neben vereinzelten Erinnerungsstücken – etwa einer Karte des «Luftkurorts Gemünd mit Heldenfriedhof» und einem Bild des Vaters, Josef Trockel, der als Technischer Zeichner bei der Deutschen Bundesbahn gearbeitet hat –, finden sich darin viele Postkarten von Werken großer Meister wie Leonardo da Vinci, Piero della Francesca, Dürer, Rembrandt, Rubens und Hans Holbein d.J., aber auch Reproduktionen von Anselm Feuerbachs «Bildnis einer Römerin» und Gabriel von Max’ «Anatom». «Nichts», notiert Marcus Steinweg in seinem den Postkarten vorangestellten und Motive der Romane Marguerite Duras’ umkreisender Text, «scheint das Bewusstsein des Kindes gewaltsamer zu besetzen als das Bild der immer gegenwärtigen Mutter, deren Präsenz unendlich zu sein scheint.»4
Im Echo des Bildes von Rosemarie Trockels Mutter in den Postkarten, die diese gesammelt hat, kehrt die Mutter als Abwesende wieder.
All das, aber auch Fragen der Anthropologie und des Verhältnisses von Tier und Mensch, hat, gepaart mit einem glanzvollen internationalen Erfolg, dazu geführt, dass Rosemarie Trockels Werk zuweilen wie ein ferner Exoplanet am Rande der «Galaxie Kunst» bestaunt wird. Wie ein Himmelskörper, der von Texten und Kommentaren umkreist wird wie von Sonden, deren präzisen Instrumenten kein Krater und keine Anhöhe auf seiner Oberfläche entgeht. Statt nun aber eine weitere Sonde zu starten, die in engen Kreisen den «Planeten Trockel» umkreisen würde, will ich versuchen, in fünf Miniaturen oder, wenn Ihnen das lieber ist, in fünf Thesen, die aus meiner Sicht zentralen Merkmale oder Faktoren ihres Schaffens zu umschreiben. Vielleicht lässt sich auf diese Weise ja ein Randstrich ziehen, der so etwas wie eine Kontur ihrer Kunst umschreibt.
Erstens:
Der Begriff des Werks ist in Anbetracht der vielfältigen künstlerischen Praktiken Rosemarie Trockels fehl am Platze.
Kunst zu machen ist für Rosemarie Trockel eine Leidenschaft. Ergebnisse zu präsentieren, interessiert sie weniger. Sie ergeben sich. Es sind Lust und Mühe, die gut gemachte und aus Liebe zur Kunst gemachte Arbeit, die hartnäckige, ausdauernde, mit Freude vollbrachte Anstrengung, die sie antreibt. Es reizt sie, im Alltäglichen auf Entdeckungsreise zu gehen, was um sie herum geschieht, auszuforschen und zu formulieren, was sich nicht sagen, aber zeigen lässt. Geradezu unerschütterlich erscheint ihre Neigung, einer Tätigkeit nachzugehen, die Neugier, ein waches Bewusstsein, einen starken Willen und ein unbestechliches Urteilsvermögen voraussetzt und für die Geduld und Genauigkeit, Fantasie und Vorstellungskraft, Intuitionen und Ahnungen nötig sind. Wenn es denn die Aufgabe einer Künstlerin oder eines Künstlers ist, sich für einander widerstreitende Eindrücke zu öffnen, sich mit dem Unmöglichen zu beschäftigen und den Spuren des Unvollkommenen zu folgen, dann übernimmt Rosemarie Trockel die Aufgabe mit Elan. Vielleicht rührt es daher, dass sie oft als eine eher «schwierige» Künstlerin gilt. Wie dem auch sei, wer sich dem zu nähern versucht, was man aus alter Gewohnheit ihr «Werk» nennt, hat mit Schwierigkeiten zu rechnen.
Das liegt zu einem beträchtlichen Teil daran, dass es Rosemarie Trockels Vorgehen und ihrer Auffassung von Kunst widerspricht, einen bestimmten Stil oder auch nur einen festen Bestand an Arbeiten anzuhäufen und ein für allemal gelten zu lassen. Man kann bei ihr nie sicher sein, was als Nächstes kommt. Trockels Produktion findet ihre Beständigkeit anderswo. Eher darin, im Verhältnis von Sinn und Gegensinn nicht willkürlich eine Seite der anderen zuzuschlagen, das eine dem anderen nicht zu opfern, und darin, den Kontext eines Musters, eines Stils, einer Haltung, einer Ideologie so lange und so hartnäckig in seine Bestandteile auseinanderzulegen, bis Sinn und Gegensinn unterscheidbar werden. Man flaniert zwischen ihren Arbeiten, als befände man sich in einem Labyrinth. Schlimmer noch, man gewinnt den Eindruck, als durchwandere man einen Irrgarten, in dem sich Wege plötzlich verzweigen, ihren Verlauf ändern, sich vervielfältigen. Kaum hat man einen Pfad, eine Werkgruppe, erkundend hinter sich gelassen, schon scheint sich die gesamte Anlage verändert zu haben. Das Ergebnis ist: Man steht dem, was sie in den vergangenen dreißig Jahren geschaffen hat, niemals gegenüber wie einem fest umrissenen Werk.
Als Beobachter – und besonders als Interpret –, tut man deshalb gut daran, der Gefahr entgegenzutreten, im Blick auf ihr Schaffen die Gleichsetzungen allzu sehr abzurunden. «Die Vorstellung von Philosophie und Philologie als einem singenden Mohrenduo aus dem Teatro dei Piccoli ist beruhigend, ebenso wie der Anblick eines sorgfältig zusammengeklappten Schinkenbrots»5, warnt Samuel Beckett. Es lohnt, die Warnung ernst zu nehmen, will man den Melodien des Duos Philosophie und Kunst lauschen, die Trockel zu Gehör bringt. Denn statt Markenzeichen und eine wiedererkennbare Künstlerinnenidentität zu etablieren, setzt sie auf Differenz, betont innere Widersprüche und Inkonsistenzen6. Was in der Konsequenz bedeutet und sich besonders gut an ihren Collagen ablesen lässt: Sie verschleift die Gattungen, ignoriert die Unterscheidung zwischen Original, Replik, Kopie und Reproduktion, verwischt den Unterschied zwischen Entwurf und Endergebnis7, und kommt so zu einer permanenten «Umwertung und Neubewertung der alltäglichen Praxis des offenen Schaffensprozesses eines bildenden Künstlers»8. Nicht allein in ihren Collagen, dort aber besonders deutlich, setzt sie, motivisch und thematisch, auf Revisionen, Überarbeitungen und Präzisierungen. Nicht, weil ihr nichts mehr einfiele, sondern um eine Vertiefung und Aktualisierung zu erreichen. Um neue Triebe aus vermeintlich totem Holz hervorzulocken. Um sehen zu können, was geschieht, ob es funktioniert, ob sich tatsächlich neue Triebe bilden. Aber auch, um zu zeigen, dass etwas, das man gemacht, gedacht oder erfahren hat, nicht einfach abgelegt werden kann, dass wir nicht einfach nur hinter uns lassen, was wir getan und erfahren haben, was mit uns geschehen ist und was sich um uns herum ereignet hat – dass all das zu uns gehört, zu einem Ich, aber eben nicht als etwas Festes, Fixes, sondern im Sinne eines offenen, nie endenden Prozesses. «Das einzige, was ich tun kann, denk’ ich mir», hat sie Ende der achtziger Jahre gesagt, «ist, dass ich meine Vorstellung von Welt oder Kunst – das ist identisch für mich – mit was immer für kuriosen Dingen versuche zu erarbeiten.»9
Halten wir fest: Rosemarie Trockels Vorgehen ist offen, voller Neugier für Widersprüche, die existieren und die ausgehalten, nicht aber ignoriert und weggezaubert werden wollen. Sie vermeidet es, aus vielen Teilen ein Ganzes zu formen und vertraut stattdessen auf die Kraft von Fragmenten. Abstraktionen, die lediglich die Macht großer Systeme stabilisieren helfen, stellt sie eine Fülle individueller Praktiken gegenüber. Wodurch an die Stelle eines homogenisierten Werkzusammenhangs mit der Zeit jede Menge Zwischenstufen zwischen Idee, Form und Konzept getreten sind, mannigfaltige Konstellationen und Aggregationen – Umschreibungen eines bestimmten Zustands zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten Voraussetzungen.
Zweitens:
Ironie, Irony, I-Ronny, Ei-Ronny – für Rosemarie Trockel ist Ironie ein Distanzmittel, vor allem aber ein Zeichen für die Elastizität des Subjekts.
Rosemarie Trockel ist eine Meisterin der ironischen Elastizität; denn darum geht es bei der Ironie: um Elastizität. Nicht um irgendeine Elastizität, sondern um die Elastizität des Subjekts oder Ichs, um einen Möglichkeitssinn jenseits starren Identitätsdenkens. Ein Beispiel: Wenn Trockel im Motivumkreis ihrer Ei-Arbeiten ein Ei in eine weiche Schaugummimatte auf einem an den Seiten weiß gestrichenen Holzkasten bettet, dessen Vorderseite so etwas wie eine vaginale Maserung zeigt, und an das schützende Polster zwei Druckplatten lehnt, die Fotografien von Gefangenen irgendeines Gefängnisses zeigen, die durch die Gitterstäbe ihrer Zelle nach draußen schauen, so bilden kaltes Gefängnis und warmer Schutzraum, phallische Stäbe und Eihöhle nicht nur einen formalen Gegensatz. Nicht zufällig trägt die Arbeit den Titel «Melancholia», bleiben die Gegensätze darin doch unversöhnlich nebeneinander bestehen. Folgen wir Wilfried Dickhoff10, so verweist die Arbeit unter anderem auf Trockels Willen, «die Abdankung von Subjektivität weder zu leugnen noch leichtfertig zu ratifizieren»11.
Auch «Die legendäre Ei-Ronny», so der Titel einer Zeichnung von 1993, ironisiert als schießendes Cowgirl mit «Eiern» zwischen den Beinen einerseits den Männlichkeitswahn, hebelt anhand des Oppositionsschemas männlich-weiblich andererseits aber stellvertretend jegliche Identitätsbildung aus, die auf starren Gegensätzen beruht. Trockel macht sich ein «schamloses Vergnügen» daraus, die Mächte des Ursprungs und der Prägung außer Kraft zu setzen und vom Denken in Resultaten auf pure Prozessualität umzuschalten. Oft bedarf es dazu nicht mehr als der Verdoppelung einer Kontur, einer leichten Verschiebung – im Bild, in der Sprache, in der Geste. «Ironie», hat sie einmal gesagt, stelle sich ein, «wenn ich boshaft werden muss. Sie ist ein Laster, das mich davor bewahrt, zynisch zu werden.»12
Und wer ihre Buchentwürfe und Zeichnungen betrachtet, der muss sich die Titel, die sie den Blättern gegeben hat, nur langsam auf der Zunge zergehen lassen, um zu bemerken, wie subversiv sie Ironie, gelegentlich aber auch beißenden Humor, einsetzt, um das alte Ego an seiner empfindlichsten Stelle, seiner selbstherrlichen Identität, zu kitzeln. Ob Titel «Wermutinsel», «Aua Zukunft», «OB makes us bleed», «Spiral Betty», «Romantische Seele» oder «Vater morgana» lauten, mit Freude hebeln sie Gewohntes aus und eröffnen freiere Sinnhorizonte. Ironie ist für Trockel also eine willkommene Möglichkeit, das gewohnte Sehens kippen zu lassen, übliche Kodierungen von Bildern und Mustern zu unterlaufen.
Drittens:
Rosemarie Trockels Kunst agiert auf eine reflektierte Weise politisch.
Rosemarie Trockel ist nicht nur ein politisch denkender Mensch, auch ihre Kunst ist von Grund auf politisch. Doch in welchem Sinn? Als sie von Doris von Drateln gefragt wurde, ob sie mit ihren Arbeiten den Anspruch auf eine gesellschaftliche Wirkung verfolge, antwortete sie:
«Die Kunst arbeitet an der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Aber direkte Veränderung durch Kunst ist wohl eher ein Märchen, an das es sich zu glauben lohnt. Man muss auf dem Vorschein der Kunst beharren.»13
Lassen Sie uns genau hinhören: Trockel zitiert Carl von Clausewitz’ berühmtes Diktum «Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln», ändert es aber entscheidend ab. Kunst ist für sie nicht das Andere von Gesellschaft und Politik. Kunst «arbeitet» vielmehr daran, mit ihren eigenen Mitteln politisch wirksam werden zu können. Es ist typisch für Trockel, dass sie eine die Verhältnisse unmittelbar verändernde Wirksamkeit der Kunst zwar in den Bereich des Märchens verweist, in der Negation aber an der Möglichkeit festhält, Kunst sei im Vorschein einer besseren Welt der schlechten Realität voraus. Es gibt wenige Künstler, die sich dessen, was sie tun, so bewusst sind.
Trockel opponiert also, aber sie tut es auf komplexe, eigensinnige Weise. Sie ist insofern eine dezidiert politische Künstlerin, als sie nicht auf die glänzenden Oberflächen des Kapitalismus hereinfällt und es mit den berühmt berüchtigten «Verhältnissen» genau nimmt. Wie sie das macht? Nun, sie lässt genau das fahren, was sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausbreitet: Kontrolle, Oberfläche, Härte, Glätte. Sie hält sich nicht daran, was andere ihr vorschreiben wollen, sie macht sich nicht ein für allemal ein Bild, das, um ein Wort von Roland Barthes über die Fotografie zu verwenden, «abbindet». Im Gegenteil. Sie verflüssigt Verhältnisse, belässt sie im Stadium des Werdens, wodurch sie durchlässig, löchrig, offenporig erscheinen. Sie rückt die Verhältnisse nicht willkürlich zurecht, nimmt aber genau wahr, was der Fall ist und dringt so bis in die schizoiden Tiefenschichten des Kapitalismus mit ihren Wunschmaschinen und organlosen Körpern vor. Auch auf dem Feld des Politischen gilt also: Sie schafft und nutzt Freiräume, entwirft einen Vorhof der Freiheit, in dem sich ein anderes Ich, eine andere Grundlage für wechselnde Identitäten, ausbilden kann.
Viertens:
Rosemarie Trockel betreibt Ego-Shooting. Sie konfrontiert das alte, selbstherrliche Subjekt mit Erfahrungen, die es verändern.
«The old ego dies hard. Such as it was, a minister of dullness, it was also an agent of security […]» – «Das alte Ich stirbt schwer. So wie es war, ein Minister der Dumpfheit, war es auch ein Agent der Sicherheit», notiert Samuel Beckett in seinem Essay über Proust.14 Trockel mobilisiert Gegenkräfte. Sie demonstriert unablässig, dass man sich vor Mannigfaltigkeiten nicht zu fürchten braucht. Sie sind Realität, setzen keine Einheit voraus, gehen in keine Totalität ein und gehen erst recht nicht auf ein Subjekt zurück. Im Gegenteil. Subjektivierungen sind Prozesse, die in Mannigfaltigkeiten allererst produziert werden und auftauchen.15 Die Klippen, die das werdende Subjekt inmitten der chaotisch-bunten Welt zu meistern hat wie Odysseus die Passage zwischen Skylla und Charybdis, eröffnen allererst die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, «sofern wirkliche Erfahrung nur sein kann, was, mit Hegel zu sprechen, eine Umkehrung des Bewusstseins durch die wegweisende Enttäuschung nach sich zieht. Erfahrung ist, was eine Wendung des Subjekts gegen sich selbst bewirkt und die vernichtende Befreiung von seiner Vormeinung mit sich bringt.»16
So verstanden steht Erfahrung bei Trockel für die Möglichkeit, sich permanent zu verändern, anders und ein anderer zu werden. Wobei sie nicht von der Schwierigkeit absieht, dass das System, in dem wir leben, alles aufsaugt, was anders zu sein scheint. Was eben noch authentisch, subkulturell, subversiv erschien oder als solches markiert wurde, ist einen Wimpernschlag später bereits vereinnahmt, einsortiert, verwertet, kommerzialisiert. Das gilt auch für die Kunst. Rosemarie Trockel reagiert auch darauf. Sie tastet nach dem Anderen, ohne es, um es philosophisch auszudrücken, zu einem Identischen werden zu lassen. Von «Vexierbildern des Nichtidentischen aus Erinnerungsspuren und begehrenswerten Unmöglichkeiten»17 hat Wilfried Dickhoff in diesem Zusammenhang einmal gesprochen. Dazu passt, dass ihre Arbeiten etwas aufweisen, das man eine «tiefe Oberfläche» nennen könnte. Denn selbst da, wo sie etwas benennen und bezeichnen, geschieht das im Modus der Vorläufigkeit. Die Möglichkeit, es anders zu sehen, besteht fort. Die Mannigfaltigkeit unserer Perspektiven auf Welt lässt sich also retten, ohne dass wir als Subjekte eindimensional zu werden brauchen. Was noch nicht ist, kann man sich nicht nur wünschen, der Übergang und Vorstoß zum Noch-Nicht lässt sich vorführen – wenigstens das.
Kommen wir zum fünften und letzten Punkt.
Fünftens:
Rosemarie Trockel entwickelt eine künstlerische Haltung, in der das Subjekt zu einem neuen Leben erwacht.
Wie lässt sich als Künstlerin agieren, wenn man erfahren und eingesehen hat, dass «Ich» keine stabile Konstruktion mehr ist, viele Ichs neben- und nacheinander existieren? Rosemarie Trockel macht es vor. Das allein schon sichert ihr eine herausragende Stellung in der Kunst der Gegenwart. Dabei ignoriert sie den Kunstbetrieb so gut es geht.
Sie lässt Fremdartiges zu, erkennt es als solches an, hält Differenzen aus. Sie klammert sich nicht an Resultate, sondern begrüßt sie als willkommenen Anlass, als Durchgangs- und Umsteigestation, damit sich die Resultate freischwimmen, sich die Wirkungen von ihren Ursachen emanzipieren können. Sie bestimmt und ordnet Gewöhnliches und Gewohntes anders, sichtet, prüft und spielt durch, was sichtbar wird, was wir erinnern, was prägt, einschränkt, verletzt, abwertet, aber auch, was aufmuntert und befreit. Agonie kennt sie nicht, so wenig sie die Macht der Gewohnheit akzeptiert.
Mit Lust zerlegt sie das alte Ich als vermeintlichen Stabilitätspol in seine Bestandteile, die da sind: mannigfaltige individuelle, persönliche, kollektive und mediale Prägungen, Erinnerungen, Gewohnheiten und Erfahrungen – spontane Begeisterungsschübe und anhaltende Enttäuschungen eingeschlossen. Die Zerlegung erfolgt in der Anverwandlung von Bildern, Szenen, Konstellationen, Blicken, Perspektiven, Meinungen und Anschauungen, wie Alltag und Zeit sie ihr diktieren. Mit der Elastizität feiner Ironie entwirft sie Vexierbilder zwischen Identität und Nichtidentität. Sie lehrt uns, genau hinzusehen, klärt uns darüber auf, dass es Spaß macht, mit Unschärfen, Widersprüchen, Paradoxien und Ambivalenzen zu leben. Kurz gesagt: Sie lehrt uns, porös zu werden und es zu bleiben. Durchlässig für das, was um uns herum geschieht. Anders ausgedrückt: Sie lehrt uns, mehr zu sehen, wenn wir anders und anderes sehen. Sie fordert dazu auf, die Augen ganz aufzuschlagen, zu einem furchtlosen, frischen In-die-Welt-Blicken zu erwachen, das sich mit standardisierten Antworten nicht zufrieden gibt, das sich durch angebliche Tatsachen weder beruhigen, noch narkotisieren lässt. Sie ermuntert dazu, wach und aufmerksam durch die Welt zu gehen und ein aktives Leben in dieser zu führen.
Meine Damen und Herren, um all dies zu erproben, macht, so denke ich, Rosemarie Trockel Kunst. Dazu macht ihre Kunst Mut, dazu fordert sie auf und uns als ihre Betrachter heraus. Und weil sie dazu anregt, Ahnung und Intuition mehr zu vertrauen als bloßem Wissen, trägt sie zu etwas bei, was man in einer ökonomisch aufgeladenen Sprache «Labilitätsmanagement» nennen könnte.
Was wird aus einem Ich, das sein Korsett eingebüßt hat? Vielleicht eine Künstlerin wie Rosemarie Trockel, wer kann das wissen? Nicht «Erkenne dich selbst» ruft sie dem Ich zu, sondern: Erkunde, was dich zu dem gemacht hat, der du geworden bist und nutze jede Gelegenheit, Erfahrungen zu machen, die dich verändern. Denn du bist so vieles mehr als ein mit sich identisches Subjekt.
Als ich Rosemarie Trockel vor zwei Wochen an einem sonnigen Frühlingsnachmittag in Köln getroffen habe und wir über dies und das geredet hatten, sagte sie: «Eigentlich ist es das Einfachste von der Welt.»
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Geduld und ich gratuliere Rosemarie Trockel zum Roswitha-Haftmann-Preis.
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