Prof. Thomas Wagner
Laudatio auf Michelangelo Pistoletto aus Anlass der Verleihung des Roswitha-Haftmann-Preises 2018 am 28. September 2018 im Kunsthaus Zürich.
Sehr verehrte Gäste, lieber Michelangelo Pistoletto.
«Wenn die Kunst der Spiegel des Lebens ist, dann bin ich der Spiegelhersteller.»(1) Das hat Michelangelo Pistoletto 1980 festgestellt. Ist einer, der Spiegel herstellt, nicht eher ein Handwerker? Was steckt dahinter, wenn ein Künstler sich selbst als Spiegelhersteller bezeichnet?
Beim Namen Michelangelo Pistoletto fällt unweigerlich das Stichwort «Arte povera». Wer sich in der jüngeren Kunstgeschichte auskennt, nennt dann sofort einige seiner bekanntesten Werke wie die «Lumpenvenus», seine «Spiegelobjekte», oder die «Minus-Objekte», um zu illustrieren, hier gehe es um eine Kunst aus einfachen und deshalb «armen» Materialien. Anders als man vermuten könnte, verbirgt sich hinter dem Namen «Arte povera» keine homogene Künstlergruppe. Es war vielmehr der Kunstkritiker Germano Celant, der Ende der 1960er Jahre in den Werken und der Haltung individuell agierender Künstler Gemeinsamkeiten erkannt, den Begriff geprägt und theoretisch untermauert hat. Liest man nach, was Celant 1967 unter dem Titel «Arte povera. Anmerkungen zu einem Guerillakrieg» geschrieben hat, so gewinnt die von den Künstlern eingeschlagene Richtung sogleich an Kontur. Sein Text beginnt mit den Worten: «Zuerst kommt der Mensch, dann das System – so war es früher. Heute produziert die Gesellschaft, und der Mensch konsumiert. Jeder kann kritisieren, vergewaltigen, entmystifizieren und Reformen vorschlagen, solange er innerhalb des Systems bleibt. Frei bewegen darf er sich nicht. Ist ein Objekt geschaffen, wird man darauf hingeführt. Das System verlangt es so. Die Erwartung darf nicht enttäuscht werden. Hat sich der Mensch eine Rolle zu eigen gemacht, muss er sie bis zum Tod weiterspielen.»(2)
Was Celant vor mehr als 50 Jahren beschrieben hat, wirkt erstaunlich aktuell, inklusive der Zwickmühle, in der ein Künstler steckt: «Obgleich er die Konsumwelt ablehnt, produziert er doch für sie. Freiheit ist ein leeres Wort.»(3) Das «System», wie man damals sagte, funktioniert heute besser als je zuvor. Dass Freiheit nur ein leeres Wort sein soll, hat Michelangelo Pistoletto so wenig akzeptiert wie den Umstand, dass ein Künstler, will er Erfolg haben, die Erwartungen des Systems – des Publikums, des Marktes, der Museen – erfüllen und aus seinem Werk ein Markenzeichen machen muss. Immer wieder hat er die an ihn gerichteten Erwartungen durchbrochen. Man mag es Freiheitsdrang oder Beharrlichkeit nennen, vielleicht sogar Sturheit, jedenfalls hat er es vorgezogen, sich und seine Kunst der «freien Selbstprojektion menschlicher Aktivität»(4) zu verschreiben.
Pistoletto widersetzt sich. Er lehnt es ab, Dinge so wahrzunehmen, wie es uns anerzogen wurde. Er weigert sich, dem hektischen Kunstbetrieb geschmeidig Werke anzudienen, die im Gegensatz zu einem freien Leben stehen. Stattdessen besteht er kategorisch darauf, es sei Aufgabe der Kunst, symbolische und formstiftende Befreiungsakte hervorzubringen. Dem alles zementierenden System setzt er «die Unwiederbringlichkeit eines jeden Augenblicks» entgegen: «Eine im Voraus festgesetzte Richtung ist gegen die Freiheit des Menschen. Das Morgen vorher festzusetzen heißt soviel wie es sich verpflichten; das heißt, morgen bin ich nicht frei; und sich an eine im voraus festgesetzte Idee halten heißt, sich in der Vergangenheit spiegeln und sich des freien Willens berauben.»(5)
Pistolettos Kunst erweist sich also vor allem als «arm» an falschen Illusionen. Mögen die allzu Geschäftigen es auch für naiv halten – ein Kunstwerk bleibt für ihn mehr als eine Ware: Es kann die Wahrnehmung verändern, es ermöglicht uns, Dinge, die wir für unabänderlich halten, angstfrei anders zu sehen; es überrascht mit Perspektiven, die uns bislang verborgen geblieben sind, und es lässt uns erkennen, dass eine wirkliche Erfahrung zu machen bedeuten kann, sich radikal von seiner Vormeinung zu befreien.
Mitte der 1950er Jahre beginnt er die Autonomie der Kunst zu hinterfragen. Noch scheint ihm «das Problem der Leinwand unüberwindbar wie eine hohe Mauer»(6) . Der Ausstieg aus dem Bild aber hat begonnen: Fontana durchlöchert und zerschneidet die Leinwand «im verzweifelten Versuch, dadurch einige Zentimeter Raum zu gewinnen»(7). Pollock steigt mit den Füßen auf die am Boden liegende Leinwand, «um für einen Augenblick die Illusion zu haben, das frontal gegenüberstehende Hindernis aus dem Weg geräumt zu haben»(8). Pistoletto erkennt den Impuls, sieht aber auch, dass solche Versuche in der Tradition verharren. Ist, fragt er sich, die Kunst an einem Punkt angekommen, wo es nur noch eine Fläche oder eine Wand gibt, auf welcher der Maler seine individuelle Weltsicht ausbreitet? Wartet dies- und jenseits nicht das Reale, das sich hartnäckig entzieht? Er zieht die Konsequenzen: Er versagt der Autonomie der Kunst, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt wurde, die Gefolgschaft, versucht, seine Kunst «auf eine universale, mit allen geteilte, plurale Perspektive hin zu öffnen»(9). An Piero della Francescas «Geißelung Christi» – im frühen 15. Jahrhundert geradezu eine Demonstration der damals neuen, auf wissenschaftlichen Prinzipien aufbauenden zentralperspektivischen Darstellung – wird ihm bewusst: Der allein individuelle Ausdruck muss überwunden werden, die Welt ins Bild und die Skulptur zurückgeholt werden.
Es sind diese Überlegungen, die ihn zum Spiegel-Bild führen. Dessen Prinzip ist von schlagender Einfachheit: Alles liegt dem Künstler vor Augen, nur nicht er selbst. Allein über das Selbstporträt gelangt er zu einem Bild seiner selbst. Ein solches lässt sich ohne Spiegel aber nicht herstellen. Beobachtet sich der Künstler freilich im Spiegel, steht er vor einem objektiven Bild, befindet sich zugleich vor und im Bild. Eine Alternative, sich selbst sehen und abbilden zu können, wäre die Fotografie. Doch während diese nur einen von unendlich vielen Zuständen als Bild festschreibt, bleibt das Spiegelbild ständig in Bewegung. Es hält das Bild offen für Veränderungen, die sich außerhalb seiner ereignen. Im Spiegel bleibt buchstäblich alles im Fluss – auch, was den Betrachter seiner selbst umgibt. Mit seiner Präsenz gerät die Welt unweigerlich in den Blick – und wie vorläufig und wandelbar sie wahrgenommen wird, sie wird ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat.
Um Frontal- und Rückenansicht, Nähe und Ferne, Dynamik und Statik, Einheit und Vielfalt, Gegenwart und Abwesenheit, Oberfläche und Tiefe erfahrbar zu machen, bestehen Pistolettos Spiegel-Bilder aus zwei Teilen: dem Spiegel, der die Bilder in ihrer unaufhörlichen Bewegung wiedergibt, und einer Fotografie der auf immer bewegungslosen Gestalt, das auf die Spiegeloberfläche gedruckt ist. Auf diese Weise treffen zwei einander entgegengesetzte Wirklichkeiten an einem Ort zusammen(10). Das reflektierte Bild zwingt uns, auf den Raum und die Zeit hinter uns und um uns zu blicken. Pistoletto selbst formuliert es so: «Wenn wir uns im Spiegel sehen, kann jeder von uns jeden anderen im selben Raum und in derselben Zeit sehen. Ich habe als Künstler die Leinwand des Gemäldes in einen Spiegel verwandelt. Dadurch habe ich die Einsamkeit des Künstlers durch ein Selbstporträt ersetzt, in das die sich spiegelnden Betrachter zu mir in den Spiegel eintreten.» (11)
Es ist dieses Schwellenphänomen, das Pistoletto fortan erkundet – als Metapher wie als Instrument und Medium einer unmittelbaren Erfahrung. Die Tür steht nun offen. Die Kunst hat sich dem Leben geöffnet. Sie feiert nicht länger ein System, das auf die Stabilisierung seiner Identität bedacht ist. Woraus folgt: Wer in das sich wandelnde Bild eintritt, ist nicht mehr allein. Er erkennt, dass er Raum und Zeit mit anderen teilt. Aus einem sind viele geworden. Vervielfältigen und Teilen führen mitten in die Gesellschaft – zu Fragen nach der Gemeinschaft, nach dem Gegenüber und der Zusammenarbeit mit ihm. Auch Pistolettos Kunst bleibt in Bewegung: Als Weiterführung der Spiegelarbeiten entstehen zahlreiche Aktionen. Und in den «Oggetti in meno», den «Minus-Objekten», treibt er den Prozess des Zersplitterns der Identität und der Erkenntnis, dass wir immer andere sind, weiter voran.
Der Spiegel öffnet sich aber nicht nur zur Welt und multipliziert ihr Bild: in ihm wird die Welt auch leicht, bleibt veränderbar. Durch und in ihm erwächst der Macht, die das Lebendige zu versteinern trachtet, ein Gegenmittel – real und symbolisch. In der Sprache des Mythos ausgedrückt – und Pistoletto wäre kein Italiener, hätte er sich nicht immer wieder auf den Mythos bezogen – gleicht der Künstler in seinem Kampf gegen all das, was verhärtet, festlegt, träge und unfrei macht, einem zeitgenössischen Perseus. Jenem antiken Heros, der als einziger fähig ist, die Medusa zu besiegen. Jenem Perseus, der, um den Kopf der Medusa abzuschlagen, ohne dabei zu versteinern, seinen Blick nicht auf das Antlitz der Gorgo richtet, sondern nur auf ihr Spiegelbild auf einem bronzenen Schild. Der zerstörerische Blick der verhärtenden Macht – im Spiegelbild wird er gebrochen. Die indirekte Sicht bezwingt ihn, lässt seine Macht im Schein ins Leere laufen.
Und was das abgeschlagene Haupt angeht, so lässt es Perseus nicht etwa liegen. Er trägt es in einem Sack verborgen mit sich herum. Wenn Feinde ihn zu überwältigen drohen, braucht er es nur an den Schlangenhaaren herauszuziehen und vorzuzeigen, schon wird die blutige Trophäe zu einer unbesiegbaren Waffe, gegen den, der die Strafe verdient, in die Statue seiner selbst verwandelt zu werden. Perseus kann jenes schreckliche Antlitz also beherrschen, indem er es verborgen hält, so wie er es besiegen konnte, indem er es im Spiegel betrachtete. Immer ist es eine Ablehnung des direkten Anblicks, aus der er seine Kraft bezieht. Pistoletto bedient sich einer vergleichbaren Strategie. Auch er ignoriert die Realität der Monsterwelt – des vielköpfigen Systems – keineswegs, mit der zu leben ihm und uns beschieden ist. Er versteht es aber, ihr geschickt einen Scheinvorgang vorzuhalten, der sie ihrer Macht beraubt. Was im Mythos von Perseus und der Medusa ausgesprochen wird, in Pistolettos Werk wird es zur Gegenmacht der Kunst, der Macht des indirekten, symbolischen Blicks. Eines ist klar: Pistoletto ist mehr als der Spiegelmacher, für den er sich ausgibt. Er ist ein Aktivist der Zukunft, der die Kunst nutzt, um über die Kunst hinaus zu gelangen, bis zur Vision einer neuen Gesellschaftsordnung.
Der Künstler als Weltverbesserer? Vielleicht, viele mögen das glauben. Tatsache ist: 1993 in «Progetto Arte» und 1998 mit der Gründung der «Cittadellarte – Fondazione Pistoletto» in Biella, übernimmt er als Künstler die Verantwortung, sämtliche Bereiche menschlicher Aktivität – Religion, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, und Erziehung – miteinander zu verknüpfen. 2010 fasst er, als wolle er die Summe aus seiner Kunst und seinem Nachdenken ziehen, seine Überlegungen zusammen und nennt die neue Ordnung: das Dritte Paradies.
«Ich erkannte», schreibt er, «dass ich, bei all meiner künstlerischen, intellektuellen und praktischen Tätigkeit im Zeichen einer verantwortlichen Veränderungen der Gesellschaft, noch einen weiteren, entschlosseneren und wirkungsvolleren Schritt tun musste, um zu der Veränderung beizutragen, die diese schweigende, verzweifelte Menschheit zu beschwören suchte. So entstand das Zeichen des Dritten Paradieses.» Es ist ein erweitertes Unendlichkeitszeichen: «Aus dem mittleren Kreis wird, wie aus einem Mutterbauch, den die beiden früheren Paradiese, das natürliche und das künstliche, befruchtet haben, die neue Menschheit hervorgehen.»
Der Planet Erde als ein Garten, den, so Pistoletto, «die Atmosphäre wie ein feiner, leicht zerreißbarer Schleier umhüllt, wie eine Einfriedung, die den Planeten abschirmt gegen das Weltall», in dem sich jeder Mensch «seiner Verantwortung als Gärtner, als Schöpfer seiner Umwelt» bewusst werden muss? Kann das gelingen? Erinnern wir uns, was Germano Celant geschrieben hat: «Zuerst kommt der Mensch, dann das System – so war es früher.»
Könnte es morgen wieder so sein? Weist der Spiegel des Spiegelmachers uns den Weg? Der indirekte Blick der Kunst kann die versteinernde Macht brechen – im Werk von Michelangelo Pistoletto lässt es sich erfahren.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld – und gratuliere Michelangelo Pistoletto zum Roswitha-Haftmann-Preis 2018.
(1) Baden-Baden, hrsg. v. Jochen Poetter, Baden-Baden 1988, S. 90.
(2) Germano Celant, Arte povera. Anmerkungen zu einem Guerillakrieg, in: Arte povera, Manifeste, Statements, Kritiken, hrsg. v. Nike Bätzner, Dresden Basel 1995, S. 34.
(3) a.a.O., S. 35.
(4) ibid.
(5) Michelangelo Pistoletto, Die letzten berühmten Worte, in: Arte povera, Manifeste, Statements, Kritiken, a.a.O., S. 219/20.
(6)Michelangelo Pistoletto, Das Jüngste Gericht in der realen Dimension, a.a.O., S. 90.
(7)ibid.
(8) ibid.
(9) Michelangelo Pistoletto, Das Dritte Paradies, Wien 2012, S. 97.
(10) vgl. a.a.O., S. 65.
(11) a.a.O., S. 56.
(12) a.a.O., S. 12.
(13) a.a.O., S. 13.
(14) a.a.O., S. 14.
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