Thomas Wagner

Der Freiraum der Kunst
Laudatio auf Peter Fischli und David Weiss aus Anlass der Verleihung des Roswitha-Haftmann-Preises 2006

Sehr geehrter Peter Fischli, sehr geehrter David Weiss, meine sehr verehrten Damen und Herren,

«Wie einfach im Grunde alles ist», brummt der Bär. Worauf die Ratte entgegnet: «Keine verbreitete Ansicht.» Also verkündet der Bär: «Die armen Verwirrten haben keine Ahnung!» – «Die Reichen auch nicht», kontert die Ratte.

Die ersten Worte gebühren, wie könnte es anders sein, Ratte und Bär, den beiden Alter Egos der Künstler in dem Film «Der geringste Widerstand». Und was folgt aus der allgemeinen Ahnungslosigkeit? Keine Ahnung! Einstweilen wissen wir nur soviel: Ohne Ratte und Bär, die beiden Kunst-Detektive, lässt sich nur schwer etwas herausfinden. Aber warum eigentlich waren die beiden aufgebrochen zu ihrer Informations- und Bildungsreise in die Welt der Kunst?

Als beim Bären das Telefon klingelt und ihn in seinem Zimmer mitten in der kleinen-großen kalifornischen Modellstadt aus Karton, Draht, Spielkarten und Batterien aus dem Schlaf holt, erklärt es ihm die Ratte am anderen Ende der Leitung:
«Jetzt hör mal, was hier steht: Zunehmende Gewalt in der Kunstwelt! ... Bandenkrieg, Prügeleien. ... Enormer Sachschaden in der Höhe von... Besonders wird verdächtigt N.G. aus R., dessen Werke zu astronomischen Summen gehandelt werden ... und dessen aufwendiger Lebensstil schon viele arme Leute geärgert hat ...Verschiedene Quellen vermuten, dass die herrschende Langeweile in der Kunstwelt die Ursache der Gewalttätigkeiten ist.»
Was soll dieser Unsinn? fragt der Bär. Und die Ratte entgegnet ihm: «Aber verstehst du nicht? Dem Zielreichen gehört die Welt. Wir gehen in die Kunstwelt, da scheint was los zu sein: – Action – Kultur – Geld.»
Also macht sich der Bär, noch etwas widerwillig, auf den Weg. Als sich die beiden dann auf einer Brücke über einen Freeway treffen, fragt er:
«Gibt es Arbeit?» «Nein», sagt die Ratte, «Geld!» – «Interessant. Wie denn?» will der Bär wissen. Also erklärt es ihm die Ratte:
«Verschiedene Quellen schieben die Schuld der schlechten Stimmung zwischen Maler und Betrachter zu. Und daraus machen wir einen Riesenwirbel und kassieren grausam, wie die anderen. Wir steigen ganz groß ein.»
Als sich die beiden Schnüffler danach bei den Reichen am Pool umsehen, wo Kunstbücher und Kunstzeitschriften herumliegen, spricht – mit verführerischer Frauenstimme – plötzlich die Kunst selbst zu ihnen – oder ist es der Geist des Kunstbetriebs?
«Hallo, ist jemand da? – Ich bin das gepflegte Leben, die Eleganz. – Du kennst mich gut. – Ich bin der Tanz und die Ekstase. – Aber auch das Ausschlafen und Liegenbleiben. – Ich bin die Schönheit und der Stil. – Ich bin die nicht enden wollende Gartenparty. Ich bin der Champagner aus dem Damenschuh. – Der Napf, aus dem du frisst. – Ich bin die Freiheit, mit der du spielst. – Ich bin das Vergnügen ohne Grund. – Ich bin die Zeit, die zur Verfügung steht. – Ich bin der geringste Widerstand.»[1]

Von einer schlechten Stimmung zwischen Maler und Betrachter kann bei Fischli und Weiss kaum die Rede sein. Aber der geringste Widerstand, der will überwunden sein. Dieser ganz besonders. Vieles im Werk der beiden Künstler scheint dafür zu sprechen, dass sie alles daran setzen, diesen geringsten Widerstand zu überwinden. Und wie macht man das? Ganz einfach: Indem man den Widerstand erhöht. Den Widerstand der Kunst. Doch wogegen leistet die Kunst Widerstand? Oder, anders gefragt: Wem oder was widersteht die Kunst der beiden Helvetier?
«Ich bin die Freiheit, mit der du spielst», spricht die schöne, elegante, ekstatische Stimme der Kunst im Film. Die Kunst, ein Spielraum – das leuchtet ein. Aber mit der Freiheit spielen? Überhaupt, wie ist es um die Freiheit der Kunst bestellt, wenn sie es ist, mit der Künstler und womöglich auch Rezipienten spielen?

Ist die Kunst heute nicht so frei wie nie zuvor? – Frei von einem Auftraggeber, frei vom Zwang des Repräsentationsbedürfnisses eines Fürsten, Kardinals oder Papstes. Frei von einengenden Vorgaben des Geschmacks, frei von allen Ismen und Schulen. Frei von den Einschränkungen bestimmter Medien oder Gattungen und frei von den Regeln einer kanonisierten Ästhetik. Von all dem ist die Kunst frei. Doch reicht das? Eine Freiheit von etwas – von Aufträgen, Ismen, Gattungen und Regelästhetik? Wofür die ganze Freiheit der Kunst? Nur für den Markt, der heutzutage alles zu beherrschen scheint? Ist die Kunst nur frei, um dann doch nur geringsten Widerstand zu leisten und nach dem Applaus einer Gesellschaft zu schielen, deren Probleme sich immer häufiger aus ihrem Reichtum ergeben? Wozu ist die Kunst eigentlich frei? Die Frage beginnt lästig zu werden.

«Der Freiraum der Kunst ist ein Kaninchenstall» stellte Joseph Beuys einst kategorisch fest. Und Fischli /Weiss fügen hinzu: Der Freiraum der Kunst ist auch eine Bärenhöhle, und er ist die im Untergrund verlaufende Kanalisation, das Terrain der Ratte. Und im Lauf der Zeit fügen sie hinzu: Der Freiraum der Kunst ist eine Welt, in der die Tiere aus Wurzeln geschaffen werden, er ist die Arbeit im Dunkeln, und er ist ein Garten, voll mit Kohlköpfen und Astern. Er ist ein Raum voller Fragen, eine Palette voller Dinge, die ihre eigenen Doppelgänger sind, und er ist eines langen Tages Reise ins Alltägliche. Und glauben wir der Figur Nr. 18 aus dem Buch «Ordnung und Reinlichkeit» der Autoren Ratte und Bär, dann ist der Freiraum der Kunst auch ein großer, auf vier Säulenfüßen ruhender Tisch, getragen von «Religion und Angeberei», von «Psychologie und Geschmack», «Unterhaltung und Blödsinn» und von «Filosofie und Langeweile», eine höhere Ebene, auf die Kritiker, Sammler, Suchende, Galeristen, blöde Mitläufer und Kulturanhänger mit Hilfe von Leitern zu gelangen suchen. Und schließlich ist der Freiraum der Kunst ein Geheimnis, das überall offen vor uns liegt, und das wir doch zumeist übersehen.

Und plötzlich sind wir wieder bei Ratte und Bär und den armen und reichen Verwirrten, die keine Ahnung haben. Und dem Verdacht der beiden Detektive, die Kunst fordere Opfer – nicht nur in Hollywood.
Was also braucht man, um das Terrain der Kunst zu erkunden wie zwei Detektive auf Bildungsreise? Was ist nötig, um nicht den Weg des geringsten Widerstands zu gehen? Ordnung und Reinlichkeit? Fragen und Geheimnisse? Die Verwirrung will nicht enden. Und doch hat sie längst begonnen, produktiv zu wirken – wie im Werk von Fischli und Weiss, das uns Betrachter auf so wunderbare Weise verwirrt, um uns Augen einzusetzen, damit wir sehen lernen.

Wenn es im Kunstbetrieb um Geld geht, nicht um Arbeit, so könnte eine Möglichkeit, den Widerstand zu erhöhen, darin bestehen, sich ans Arbeiten zu halten. Vielleicht haben Fischli und Weiss deshalb 1991 zehn Regeln zum besseren Arbeiten[2] aufgestellt, die folgendermaßen lauten:
1. Do one thing at a time
2. Know the problem
3. Learn to listen
4. Learn to ask questions
5. Distinguish sense from nonsense
6. Accept change as inevitable
7. Admit mistakes
8. Say it simple
9. Be calm
10. Smile

Nun gut, versuchen wir’s. Halten wir uns an die Regeln und konzentrieren wir uns auf nichts anderes als das Leben die Dinge. Das Problem liegt sodann darin, dass die Dinge ihr eigenes Wesen offensichtlich verbergen. Vielleicht wären die Dinge ja frei, wenn sie ganz bei sich selbst wären? Also lauschen wir, um etwas über das Leben der Dinge herausfinden zu können, ihren vielen Stimmen im Werk von Fischli und Weiss. Fragen ergeben sich dabei nicht nur von selbst, sie sind sogar Teil ihres Werks. Erst haben Ratte und Bär unbequeme Fragen gestellt, dann haben die Künstler Fragen in einen großen Topf hineingeschrieben, und später geisterten sie dann durch den dunklen Raum des Nichtwissens. Lauter Fragen wie diese:
– «Ist meine Dummheit ein warmer Mantel?
– Warum geschieht nie nichts?
– Hätte aus mir etwas anderes werden können?
– Sind dem Unmöglichen keine Grenzen gesetzt?
– Wird der Bereich des Möglichen immer kleiner?
– Lebt die Freiheit?»[3]
Lauter unentscheidbare Fragen, hätte Heinz von Foerster gesagt. Doch gerade solche Fragen sind die wichtigsten. Denn gerade weil ihre Beantwortung uns in der Sache nicht entscheidend voranbringt, haben sie den Vorteil, dass sie uns zu Antworten veranlassen, die etwas über uns selbst und unsere Einstellungen zum Leben verraten.

Ob wir auch die restlichen Regeln zum besseren Arbeiten befolgen können, mithin Sinn von Unsinn zu unterscheiden wissen, wird sich zeigen. Dass sich andauernd alles ändert, liegt auf der Hand. Und Fehler willkommen zu heißen, wird sich kaum vermeiden lassen. Nur ob wir das, was gesagt werden muss, auch einfach werden sagen können, lässt sich nicht garantieren.
Trotzdem sind wir ruhig – und lächeln.

Keine noch so leise Trauer über die Unvollkommenheit der Welt ist in den Werken von Fischli und Weiss zu spüren. Vielmehr beseelt eine große Freude all die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, auf die wir während unseres Streifzugs stoßen, ob wir nun durch prähistorische Landschaften, durch Gärten, Städte, Flughäfen und Vorstädte wandern. Freude am Ausprobieren, an Humor und Witz liegen über all den Experimenten und Versuchen, die sich daraus ergeben, dass es in den Werken der beiden mehr Ausnahmen als Regeln gibt, etwa so wie in der ´Pataphysik, der Wissenschaft von den imaginären Lösungen. Und was auch geschieht, was wir auch miterleben, es ist ein Paarlauf, dem wir folgen, und ein Duett, dem wir lauschen. Denn wo Fischli sich tummelt im heilig nüchternen Wasser, freut sich Weiss. Und wo David um die Macht der Gewohnheit weiss, wirft sie Fischli über den Haufen. Ganz wie in der Jarry`schen Welt des Ubu Roi, wo alles von der Pfuisik und der Pfuinanz und der Schreisse abhängt, so gilt auch für Fischli und Weiss, was Siegfried Kracauer – welch ein Name in diesem Zusammenhang – von der ´Pataphysik sagt: «Eine Scheibe Humor genügt nicht - ´Pataphysik ist die ganze Wurst.»[4]

Womit wir das Thema plötzlich an einem anderen Zipfel zu fassen bekommen. Bei den beiden geht es nämlich von Anfang an um die Wurst. Ja, im Anfang war die Wurst und die Wurst war bei der Kunst. Es ist Wurst, was aus uns wird, sagen die Dinge. Denn sie sind verzweifelt. Also wird erst recht Wurst aus ihnen, buchstäblich, Scheibe für Scheibe. Wir schreiben das Jahr 1979, als die gemeinsame Arbeit von Peter Fischli und David Weiss mit der während einer Klausur entstandenen «Wurstserie», einer Sequenz aus Fotografien, beginnt.
Aus gemusterter Mortadella, gestapelten Wustscheiben, Keksen und Cornichons wird flugs ein Teppichladen. Zwei Cervelatwürste bauen einen Autounfall, und Zigarettenstummeln stehen gaffend drum herum. Doch Wurst allein ist nicht genug. Auch im Kühlschrank lagern phantastische Möglichkeiten. Hier wartet «Moonraker» auf den Start, im Tiefkühlfach wird der Nordpol konserviert, und aus Federbett und Kissen wird eine veritable Berglandschaft, mit einer Schüssel voll Wasser als Bergsee und hier und da einem Chalet aus Käsestücken; und vom Kissenzipfel fährt die Seilbahn hinab ins Tal.

Wenn das keine Möglichkeiten sind! Was sonst als solch heiteres Fabulieren vermag den Dingen ihre Ursprünglichkeit und Freiheit zurückzugeben. Wo, wenn nicht in der Kunst, haben sie die Freiheit, dem alltäglichen Sklaventum ihrer Funktion zu entrinnen und mehr zu sein als nur Schüssel, Käse oder Wurst, Eisfach oder Zigarettenstummel. Indes, kein Ding vermag all das allein. Doch tun sie sich erst zusammen, so schlummern allerlei Geschichten und Kombinationen in ihnen. Bis aus allerlei Kleinigkeiten bedeutende Nichtigkeiten geworden sind. Bis die Dinge sogar das Laufen lernen, so wie einst die Bilder laufen lernten. Und schon laufen die Dinge und die Bilder gemeinsam, und wollen gar nicht mehr aufhören, ihren «Lauf der Dinge».

Was den Anstoß gegeben, das Ganze in Gang gebracht hat, ist vergessen. Jetzt geht es voran, jetzt wird beschleunigt. Eine einzige Stafette, von einem zum anderen:
Es rollt ein Reifen, es fällt ein Stuhl, dann zündet eine Lunte, sprüht ein Funke und brennt ein Eimer. – Dann fällt die Leiter, füllt sich die Flasche, kippt die Ebene, rollt der Zylinder, zündet die Lunte, zischt die Rakete – auf dass ein Wagen fahre, ein Brett kippe, sich Stoffe mischen und brodeln – damit alles fließe und sich der Impuls fortzeuge von Ding zu Ding.
So muss Fortschritt wohl aussehen. Nichts und niemand scheint sich für ein Resultat erwärmen zu können. Was zählt, sind Aktion und Reaktion. Das Ausgebrannte und Verzehrte, das Tote und Verbrauchte, aber bleibt zurück. Unbekümmert stürmt alles weiter und stolpert voran. Es ist ein großer Spaß, aber auch ein chaotisches Fortzeugen durch Verausgabung und Zusammenbrechen, Verglühen und Verschütten, samt Gurgeln und Zischen, Rumpeln und Pfeifen.
Was wir beobachten, ist ein System, das sich stabilisiert, weil seine Elemente andauernd kollabieren. Eine Feierstunde der Entropie. Aber auch wenn das System lustig anzusehen ist, so ist es doch ein Zwangssystem, eine Kette aus nichts als Systemzwang, weshalb der Betrachter schon bald wie gebannt darauf wartet, dass irgend etwas schiefgeht, die Kette endlich unterbrochen wird, dass es aufhört – endlich. Hat nicht Walter Benjamin davon gesprochen, die Katastrophe bestehe nicht darin, dass sich etwas ändere, sondern darin, dass es immer so weitergeht? Hier geht es immer weiter, in dieser Kette aus Katastrophen.
Nur manchmal verlangsamt sich das Geschehen, verhüllt der Nebel das Unaufhaltsame, füllt sich ein Blech mit dämpfendem Schaum.
Dann ruht der Blick für einen Moment und die endlose Verkettung, der nimmer endende Impuls, der von einem zum anderen weitergereicht wird, geht auf in einem Schaumteppich, der eine Verlangsamung, ein Innehalten bewirkt, bevor sich die Aktion von neuem spannt und die Dinge sich nach Gesetzen der Physik und der chemischer Reaktionen weiter anstößig fortbewegen. Bis es doch endet, im Schaum, jenem Stoff aus beinahe nichts.

Ein «Gespinst aus Hohlräumen»[5] nennt der Philosoph Peter Sloterdijk den Schaum, ein «heiteres Denkbild»[6] und eine «Scharlatanerie aus Luft und Irgendetwas»[7] , dazu angetan, die «Subversion der Substanz mit eigenen Augen zu beobachten»[8] . Und so bleibt, wo die großen Übertreibungen ausgedient haben, Überraschung und Enttäuschung sich die Waage halten, nichts als Schaum.

Doch wer geglaubt hat, damit wäre alles zu Ende, der sieht sich getäuscht. Denn der Schaum des Fortschritts gebiert die Dinge noch einmal. Aus nichts als erstarrter Luft, Arbeit und Farbe ist die handwerkliche Rückübersetzung der Dinge ins Imperfekt, in die Zeit vor ihrer maschinellen Produktion. Ob Stichsäge oder Dachlatte, Lampenkarton oder Zigarettenpackung, ob Tisch, Stuhl, Telephon oder Aschenbecher, Farbtube oder Messer – in dieser Handwerkerwelt aus Polyurethanschaum ist alles Teil einer großen Werkstatt, ja die Welt selbst ist zur Werkstatt und zum Atelier geworden.
Hier leben die Dinge ihr zweites Leben. Von der «Simulation des Ready-made-Verfahrens mit handwerklichen Mitteln» spricht Boris Groys.[9]. Doch kehrt sich in dieser Schnitzkunst nicht nur das Verfahren maschineller Produktion um, diese schafft den Dingen auch ein zweites Leben in Raum und Zeit. Wenn ein Tisch mit 750 geschäumten und bemalten Doppelgängern der Dinge gefüllt ist, so sind die Dinge plötzlich langsam geworden, verspätet. Und daraus entsteht ein Lager mit Baumaterial für eine andere Welt, eine Welt der Schaumgeburten, in der nichts funktionieren muss.
So wird der Schaum zum Medium eines Freiraums, der im unaufhaltsamen Geschehen eine Lücke markiert. So wie im Lauf der Dinge das Hantieren mit Feuer eine Tätigkeit ist, die auf der «Grenze zwischen Zauber und Arbeit»[10] liegt, und wie der wahrhaft zauberhafte Lauf der Dinge auf den verblüffenden Überschuss der Wirkungen über die Handlungen angewiesen ist.[11]

Und wird nicht ein weiterer, ein anderer Freiraum erobert, wenn sich in dem Film «Der rechte Weg» eine Wurzel am Himmel abzeichnet wie ein Blitz? Es sei, hören wir, ein Wurzelblitz, aus dem die Tiere entstehen. Und wie die Blitze im «Lightning Field» von Walter de Maria in der Weite New Mexicos, so misst auch die Wurzel den Abstand zwischen Himmel und Erde aus und verbindet beide in einem Spannungsbogen. Ein Spannungsbogen ist auch der Wurzelblitz, und was aus ihm entsteht, ist geschaffen von einem Wurzelgeist, einer Geisteswurzel entsprossen. So haben auch Ratte und Bär, Stephan Zweifel hat es gezeigt, einen «Freiraum zwischen den Begriffen gefunden, zwischen den Gegensätzen» – und deshalb «tauchen sie ein in die Zone der Kindheit, ins Hochmoor der prägenitalen Freuden vor der sexuellen Differenz, die als Kluft alles trennt.» Wie «der Terror der Avantgarde» durch «die Subversion des Neutralen» abgelöst wird, schreibt Zweifel, so «erledigen Ratte und Bär ihren seltsamen ,Auftrag’, uns neue Augen zu erwürfeln. Als Nomaden des Neutralen.» [12]

Aber wo liegt das Reich des Schaums und der Freiheit? Und wie gelangt man dorthin? Wo ist der neutrale Boden zu finden, auf dem noch alles offen, nichts entschieden und festgelegt ist? Eines steht fest: Wer sich auf die Reise dorthin begibt, der braucht einen Gefährten. Denn allein würde er irre werden, an dem, was es dort zu sehen gibt – zwischen den Alternativen, mitten in der Indifferenz und der Fülle ihrer Sensationen. «Überleben», stellt Stefan Zweifel fest, «kann der Idiot nur mit einem Gefährten: wie Dick und Doof, Don Quichotte und Sancho Pansa, Bouvard und Pécuchet, Ratte und Bär.» Oder, so ließe sich ergänzen, wie die aneinander geketteten metaphysischen Nomaden in den Theaterstücken und Romanen von Samuel Beckett, wie Gogo und Didi, Lucky und Pozzo, Ham und Clov, Mercier und Camier. Auch ihre Reise geht im Kreis, damit sie ankommen können in der Gegenwart, bei dem, was schon immer da war.
«Da wären wir, sagte Mercier. Hier? sagte Camier. Es ist schnell gegangen, schließlich, sagte Mecier. Und deine Aussicht? sagte Camier. Mach deine Auge auf, sagte Mercier. Camier betrachtete prüfend die verschiedenen Horizonte. Dräng nicht so, sagte er, ich werde mir alles noch einmal anschauen. Von der Uferböschung aus sieht man besser, sagte Mercier.»[13]

Müssen wir also nur lange genug gehen, zwischen den Gegensätzen hindurch, um eine bessere Übersicht zu gewinnen? Plötzlich und unverhofft. «Plötzlich diese Übersicht», Sie wissen es, heißt eines der bekanntesten Werke von Fischli und Weiss. Ratte und Bär haben es angekündigt. Wir erinnern uns: Die beiden waren bei ihrer Reise in die Kunst bei der Philosophie gelandet, dem Versuch, das Ganze zu erkennen. «Ein Genuss, diese Klarheit», hatte der Bär gesagt. Und die Ratte hatte geantwortet: «Plötzlich diese Übersicht!»

Aber wie kann die Welt plötzlich klar und deutlich erscheinen? Verbirgt sich bei den Herren Fischli und Weiss am Ende doch so etwas wie Optimismus? Das würde uns dann doch wundern, selbst wenn der Optimismus sicher einer der ganz besonderen Art und nicht auf den ersten Blick zu entdecken wäre.

In der Welt als Modell und Exempel ist die Nahrung des Optimismus das Selbermachen. Alles noch einmal tun, alles noch einmal machen, so lautet das Rezept. Denn das Selbermachen ist eine nachgeholfene Schöpfung – wie ein nachgeholfenes Ready-mades bei Marcel Duchamp.
Das hieße hier freilich: Eine Übersicht gibt es nicht, es sei denn, wir stellen sie selbst her, wir machen sie, indem wir so tun, als ob es sie gäbe. Denn die Übersicht ist ja nicht Teil unserer alltäglichen Welt. Hier, im Alltag, mit all seinen Gewohnheiten, wo wir uns auszukennen glauben, stecken wir beständig zwischen den Dingen fest, schwanken zwischen allen möglichen Alternativen. Selbst wenn wir uns Mühe geben und uns anstrengen, alle erreichbaren Informationen auszuwerten und möglichst viele Konsequenzen abzuwägen, wir entscheiden doch immer auf der Grundlage einer begrenzten Einsicht. Niemals überblicken wir das Ganze. Niemals haben wir den Überblick und können alle Vorraussetzungen erkennen und alle Folgen abschätzen. Unser Tun ist immer riskant. Das nennen wir unser Leben unter den Konditionen der Moderne.

Aber was tun Fischli und Weiss? Sie fangen einfach an. Irgendwo. Wie der Schöpfer kneten sie aus ungebranntem Ton eine Welt, voll Begeisterung, und angefüllt mit diesem und jenem:
Mit Pythagoras, der zufrieden seinen Lehrsatz bestaunt, mit Dr. Hoffmann auf dem ersten LSD-Tripp, der mit seinem Hut auf seinem Fahrrad aussieht wie der Rad fahrende Alfred Jarry, – mit Rumpelstilzchens Wutanfall und Ende, – mit Galilei, der zwei Mönchen die Erde als Kugel präsentiert, mit einem Gefäß und einem schreienden Säugling, – mit beliebten Gegensätzen wie gut und böse, lustig und blöd, echt und falsch, mit Phöniziern und dem gestiefelten Kater, mit Neuschwanstein und einem Schrottplatz, mit Minimum und Maximum, – mit dem ersten Fisch, der beschließt, an Land zu gehen, mit einem Sturmgewehr und mit Mick Jagger und Brian Jones befriedigt auf dem Heimweg, nachdem sie I cant't get no satisfaction komponiert haben – und mit vielem anderen mehr.

Bis es in diesem enzyklopädischen Sammelsurium alles nur Erdenkliche gibt, nur eines nicht: Übersicht.
Denn je mehr Dinge und Szenen wir entdecken, desto mehr sind wir verstrickt ins Dickicht der Welt und all ihre Dinge und Geschichten. Eines aber haben wir dabei gelernt: das Staunen darüber, was es doch alles gibt. Wir genießen die einzelnen Szenen, doch was wir erkennen, ist immer nur ein Teil, immer nur ein Ausschnitt aus dem großen Ganzen. Und da fällt es uns plötzlich ein: wir könnten doch immer so weitermachen, die Übersicht fortsetzen, mit anderen, neuen Szenen und Geschichten, bis die ganze Welt noch einmal da und die Übersicht erreicht wäre. Fast erreicht wäre, bliebe doch als letzte Szene jene übrig, in der wir unsere Modellübersicht erschaffen. Also finge alles von vorne an und wir müssten alles noch einmal machen, bis wir abermals daran scheitern würden, dass unser Modell immer das ganze Universum enthalten müsste, was offenkundig unmöglich ist.

Die Sache aber ist damit keineswegs verloren. Denn nun betrachten wir die Welt mit anderen Augen. Mit zufriedenen Kinderaugen. Denn Kinder brauchen keine Übersicht. Sie schlüpfen in Kostüme und sind Ratte und Bär, sie bauen aus Wurst eine Welt, auch wenn die Erwachsenen sagen, mit Essen spielt man nicht. Für ihre Augen ist das Kleine plötzlich groß und das Große mit einem Mal klein. Staunend schaffen sie sich eine eigene Welt, und staunend begreifen sie die Welt. Und so lernen auch wir, die wir mit unseren Modellen immer zu spät kommen, wieder verstehen, wie reich und übervoll an Sinn unsere Welt ist. So reich, dass sie nicht zu übersehen und schon gar nicht zu überblicken ist.

Ist das der Freiraum der Kunst, den wir gesucht haben?
Ein Raum, in dem wir das Staunen wieder lernen können?
Mitten in der Welt mit all ihren Ablenkungen und Reizen, und doch jenseits von ihr, in Modell und Experiment?
Vielleicht ist es ja hier zu finden, das Einmalige der heiter-katastrophischen Kunst von Fischli und Weiss, in jenen Gegenden, in denen nicht die Effizienz, sondern das Subtile regiert. Dort, wo nichts mehr demonstriert werden muss, sondern wo es genügt, wenn etwas anklingt, wenn die Fülle des Lebens aufscheint – und die Dinge sich frei fühlen.

Wo die klebrige Allgegenwart der Nachrichten dafür gesorgt hat, dass zahllose Menschen die vormals weite Welt wie eine schmutzige kleine Kugel erleben[14], machen Fischli und Weiss den Blick wieder frei und weit, indem sie eine kleine, überschaubare Welt schaffen, die ist wie einen Garten mit all seinen stillen, alltäglichen Sensationen. Hier hat alles seinen Raum, auch wenn dieser klein ist und im Abseits liegt wie jener unter der Treppe im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, der aussieht wie eine verlassene Werkstatt mit Ausguss, Telephon und Aschenbecher. Erst in einem solchen Residuum können die Dinge als ihre eigenen Doubles einfach da sein. Aller Dienlichkeit und allem Zuhandensein entbunden, blühen sie auf in ihrer Präsenz und eigentümlichen Poesie.

Fischli und Weiss haben all das hinweggefegt, was auf einen Stil hinweisen könnte. Sie haben akkumuliert, überrascht und enttäuscht, die Dinge beschleunigt und verlangsamt, um in der modellhaften Rückkehr ins Verkörperbare[15] den Widerspruch des Lebendigen zu stärken.
Nicht weil sie gerade hip ist oder Erfolge auf Messen und bei Auktionen feiert, ist die aktuelle Kunst wichtig, sondern weil sie Widerstand leistet gegen den geringsten Widerstand.
Kann man Ehrenvolleres von zwei Künstlern sagen als dies:
Sie haben den Freiraum der Kunst vergrößert.
Das aber heißt nichts anderes als: Plötzlich diese Einsicht!
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.

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[1] Fischli/Weiss, Der geringste Widerstand, zitiert nach: Patrick Frey, Der geringste Widerstand, in: ders., Das Geheimnis der Arbeit, Texte zum Werk von Peter Fischli und David Weiss, München, Düsseldorf 1990, S. 16/17 und DVD, T&C Edition, Zürich
[2] Fischli/Weiss, zitiert nach: Renate Goldmann, Peter Fischli, David Weiss, Ausflüge, Arbeiten, Ausstellungen. Ein offener Index, Köln 2006, S. 11.
[3] Peter Fischli, David Weiss, Findet mich das Glück?, Köln o.J.
[4] zitiert nach: Klaus Ferentschik, Pataphysik, Versuchung des Geistes, Berlin 2006, S. 77.
[5] Peter Sloterdijk, Sphären III, Frankfurt am Main, 2004, S. 27.
[6] a.a.O., S.26.
[7] a.a,O., S.29.
[8] a.a.O. S. 28.
[9] Boris Groys, Geschwindigkeit der Kunst, in: Bice Curiger, Patrick Frey, Baris Groys, Peter Fischli. David Weiss, XLVI Biennale di Venezia 1995, S. 26/27.
[10]Sloterdijk, Sphären III, S. 398.
[11] vgl. ibid.
[12] Stefan Zweifel, Summsummm – Dummdumm, Ratte und Bär in: Der geringste Widerstand (1981), Der rechte Weg (1983), Salz und Pfeffer (1980), Ordnung und Reinlichkeit (1981), in: ders., Ausstellungskatalog Tate Modern, London 2006.
[13] Samuel Beckett, Mercier und Camier, Frankfurt am Main, S. 187
[14] vgl. Peter Sloterdijk, Sphären I - II, Frankfurt am Main, 1999 und 2004.
[15] vgl. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt am Main 2005, Kapitel 40. Das Unkomprimierbare oder Die Wiederentdeckung des Ausgedehnten, S. 391 ff.