Cildo Meireles
Laudatio auf Cildo Meireles aus Anlass der Verleihung des Roswitha-Haftmann-Preises 2023 am 22. September 2023 im Kunsthaus Zürich.
Yilmaz Dziewior | Es gilt das gesprochene Wort.
Dear Cildo, liebes Publikum,
es ist wunderbar heute hier zu stehen und im Namen der Jury des Roswitha Haftmann Preises eine Laudatio auf Cildo Meireles halten zu dürfen.
Gleichzeitig ist es eine ziemliche Herausforderung in etwa 30 Minuten die Verdienste eines Künstlers zu würdigen, dessen Karriere bis in die 1960er Jahre zurückreicht. Dass einige seiner Werke bereits Kunstgeschichte geschrieben haben, macht die Sache nicht gerade einfacher.
Erlauben Sie mir, dass ich mich aus der großen Anzahl seiner Arbeiten auf lediglich 9 konzentriere, um Ihnen einige wesentliche Aspekte seiner Vorgehensweise zu erläutern und Ihnen hoffentlich zu vermitteln, warum Cildo Meireles ein so phantastischer Künstler ist.
Vereinfachend ließe sich feststellen, dass es ihm gelingt in den meisten seiner Arbeiten drei besonders markante Aspekte zu vereinen. Zum einen fußen sie auf einem klugen konzeptuellen Plan, sind ästhetisch besonders ansprechend und schaffen darüber hinaus nicht selten einen genuinen Beitrag zu Kunstgeschichte.
Bevor ich hierauf näher eingehe, ein paar grundsätzliche Informationen: Cildo Meireles wurde 1948 in Rio de Janeiro geboren, wo er auch heute lebt. In einem Interview erzählt er, wie er bereits mit 16 Jahren ein Bewusstsein für die schwierige politische Situation Brasiliens während der Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 das Land unterdrückte, entwickelte. Ein Weg sich hiermit auseinanderzusetzen war die Kunst. Zuerst begann er mit figurativen Zeichnungen, in denen er sich mit den ihm umgebenden sozialen Verhältnissen auseinandersetzte. Zunehmend wendete er sich aber abstrakteren konzeptuellen Praktiken zu. Dabei versteht es Cildo Meireles Theorie und sensorische Wahrnehmung überzeugend miteinander zu verbinden. Nicht nur der Intellekt, sondern auch das Sehen, Hören, Riechen und Tasten wird mitunter durch seine Werke animiert. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, dass er in der Folge einer Generation brasilianischer Künstlerinnen und Künstler gesehen wird, deren Kunst als Neokonkretismus bezeichnet wird. Zu dieser sich bereits in den späten 1950er Jahren lose formierenden Gruppe zählen Lygia Clark (1920-88) und Lydia Pape (1929-2004) sowie der etwas jüngere Hélio Oiticica (1937-80).
Ihnen vergleichbar gelingt es Cildo Meireles die Betrachterinnen und Betrachter als Handelnde in sein Werk einzubeziehen. Dabei wirken seine Projekte wie Insertions into Ideological Circuits (Einfügungen in ideologische Kreisläufe) weit über den Galerie- und Museumsraum hinaus und richten sich an ein breiteres Publikum, das diese mitunter gar nicht als Kunst wahrnimmt.
Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist:
Insertions into Ideological Circuits: Coca-Cola Project, 1970
Hierfür entnahm Cildo Meireles herkömmliche Coca-Cola-Pfandlaschen kurzfristig aus ihrem Warenkreislauf, versah sie mit gedruckten politischen Botschaften und überführte sie wieder in ihre warenförmige Zirkulation. Zu den von ihm so verbreiteten Botschaften zählten etwa Anleitungen für die Umwandlung der Flasche in einen Molotow-Cocktail oder Aufforderungen wie "Yankees Go Home." Immer war auch der Titel des Werks und die Absichtserklärung des Künstlers zu lesen: "Informationen und kritische Meinungen auf den Flaschen zu registrieren und sie wieder in Umlauf zu bringen". Zum besseren Verständnis der Arbeit ist es wichtig zu wissen, dass die Coca-Cola-Flasche 1970 in Brasilien ein Symbol des US-Imperialismus darstellte und für die mit ihm verbundenen Konsumgesellschaft stand. Dabei waren die in Weiß gedruckten Schriftzüge fast unsichtbar, solange die Flaschen nicht mit ihrer dunkelbraunen Flüssigkeit gefüllt waren. Durch das Auffüllen der leeren Pfandflaschen sorgte also Coca Cola selber für die Lesbarkeit und Verbreitung des Werks.
Cildo Meireles selber sagt über diese Arbeit: "Meine Idee war es gerade, die Ausdehnung dieses totalen Kreislaufs von Flaschen, dieses Kreislaufs der ständigen Bewegung, zu nutzen, um verschiedene Menschen zu erreichen. Die Botschaften des Projekts ergaben sich in der Regel aus Informationen oder Nachrichten, die mich erreicht hatten, die mir Menschen mitgeteilt hatten, Nachrichten über Menschen, die verhaftet worden waren oder die man nicht gefunden hatte; manchmal waren es auch Menschen, die ich gar nicht kannte ... Die fotografierte oder im Museum ausgestellte Flaschenfolge ist nicht das Werk: Sie ist ein Relikt, eine Referenz, ein Muster. Das Werk existiert nur insofern, als es gemacht wird. Sein Platz ist ein wenig wie der der dritten Kugel in der Hand des Jongleurs. Sie ist im Vorübergehen da."
Ähnlich funktionierte die Arbeit:
Insertions into Ideological Circuits 2: Banknote Project, 1970
Auch hier verwendete Cildo Meireles bestehende Kreisläufe, um auf politische Missstände aufmerksam zu machen, wie das Verschwinden des Journalisten Vladimir Herzog, der später unter mysteriösen Umständen in Polizeigewahrsam ums Leben kam, nachdem er sich für ordentliche, freie Wahlen eingesetzt hatte.
Eine humorvolle, aber deshalb nicht weniger irritierende Variante sind die
Zero cent, 1974/1978 bzw. Zero Dollar 1974-1984
Durch seine Arbeiten, bei der er den Zahlenwert bei amerikanischen Cent-Münzen und Dollarscheinen auf Null reduziert, gelingt es Cildo Meireles humorvoll die ökonomische Macht des Imperialismus in Frage zu stellen. Sowohl der reale Wert, der Tauschwert wie auch der symbolische Wert des Geldes sind hier mit null beziffert und die ansonsten besonders in dieser Zeit mit der brasilianischen Währung verbundenen Inflation in dieser Arbeit als Parodie auf den US-Dollar übertrage. Heute stellen die Münzen und Scheine von Meireles beliebte Sammlerstücke dar und weiten somit die Diskussion um materielle Wertzuschreibung auch auf die Kunst aus.
Eine vergleichbare fast ephemer anmutende Arbeit von Cildo Meireles - diesmal jedoch ausdrücklich für den Ausstellungsraum konzipiert - ist:
Cruzeiro do Sul (Southern Cross / Kreuz des Südens), 1969-70
Der nur 9 Kubikmillimeter große Kubus besteht aus zwei Teilen; einem aus harter Eiche und einem aus weicher Kiefer. Meireles wählte diese Hölzer, weil sie für die Tupi, einem der größten indigenen Völker Brasiliens, heilig waren, da sie mit ihnen durch Reiben Feuer erzeugten. Das Konzept von Cruzeiro do Sul sieht vor, dass der winzige Kubus alleine in einem Raum von mindestens 200 Quadratmetern ausgestellt werden sollte. Fragen des Maßstabs werden durch diese Verhältnismäßigkeit ebenso aufgeworfen wie Erinnerungen an die koloniale Geschichte Brasiliens. Gleichzeitig entwarf Meireles mit seiner hierfür erfundenen poetischen Wortschöpfung "Humiliminimalismus" eine humorvolle Anspielung auf den amerikanischen Minimalismus und setzt diesem eine politisch aufgeladene und in seinem Maßstab extrem kleine, so doch nicht weniger effektive Version entgegen. In diesem Sinne geling Cildo Meireles ein "Antimonument" dessen Kraft nicht an die physische Größe gebunden ist. Ich erinnere mich noch gut als ich diese Arbeit im Jahr 2000 im Kölnischen Kunstverein gesehen habe, und wir beeindruckt ich davon war, wie diese den ansonsten leeren Raum hielt. (Lediglich an den beiden Stirnwänden hatte Lawrence Weiner seine Wandarbeiten AS FAR AS THE EYE CAN SEE angebracht).
Entrevendo (Glimpsing), 1970/1994
Während Cruzeiro do Sul zwar metaphorisch gesehen viel Platz einnimmt, bleibt die Arbeit doch minimal in ihren faktischen Ausmaßen. Dagegen umfängt Entrevendo (Glimpsing bzw, Flüchtiger Blick) die Besucherinnen und Besucher komplett. Als trichterförmiger Raum im Raum misst sie fast 10 Meter in der Länge und verjüngt sich in der Höhe von über drei Meter auf knappe 183 cm. Am eng zulaufenden Ende des aus Holzleisten gefertigten Tunnels sorgt ein Heizlüfter dafür, dass ein warmer Luftstrom sich zur großen Öffnung nach vorne ausbreitet. Teil der Arbeit sind zwei unterschiedliche Speiseeissorten, -eine leicht süßlich und die andere leicht salzig, die man vor dem Betreten des Tunnels aus einer Kühlbox entnehmen kann.
Durch die warme Luft wird das Eis als besonders kühlend empfunden und neben dem Sehsinn, der durch den Gang in der Trichterarchitektur eine zusätzliche Herausforderung erfährt, wird der Geschmacksinn aktiviert. Diese produktive Sensibilisierung verschiedener Sinne ist charakteristisch für die Vorgehensweise Cildo Meireles. Mit dem Wissen um die soziale Verortung seines Werks, ließe sich die so entstandene Achtsamkeit auch auf andere Bereiche, wie Kultur, Gesellschaft und Politik übertragen.
Im Folgenden werde ich drei Arbeiten von Cildo Meireles besprechen, die ich besonders gut kennenlernen durfte, da ich sie 2004 in seiner Einzelausstellung im Hamburger Kunstverein ausstellte.
Occasion, 1974/2004
Ocasiao (Occcasion, Gelegenheit) ist eine Installation aus zwei getrennten Räumen: in einem befindet sich eine Waschschüssel aus Emaille auf einem Metallgestell, in der lose eine größere Anzahl von Geldscheinen liegen. An drei der umgebenden Wände befinden sich hohe und breite Spiegel, die den Akt des Schauens und jede weitere hier stattfindende Aktion visuell vervielfachen. Noch heute erinnere ich mich an die merkwürdige Faszination, als ich diese Arbeit zum ersten Mal im Frankfurter Portikus sah. Wissend, dass der Kunstkontext so manche Erfahrung und Überraschung bereithält, war ich trotzdem verblüfft über die schiere Attraktion der schnöden Geldscheine und fragte mich, welche Handlung hier wohl erwartet beziehungsweise eventuell sogar intendiert ist. Gesteigert wurde diese Erfahrung noch, nachdem ich einen weiteren Raum entdeckte, von dem aus ich über einen Zwei-Wege-Spiegel in den Raum schauen konnte, in dem ich eben noch selber gestanden hatte. Peinlich berührt von der Unsicherheit und dem verlegenen Lachen der sich nun hier befindenden Besucher, war ich auf mich selbst zurückgeworfen, meine Wertvorstellungen, mein Wissen um Konzeptkunst, aber auch um ethische und gesellschaftliche Fragestellungen. Selten habe ich eine Arbeit erlebt, die gleichzeitig so poetisch, humorvoll und zutiefst politisch ist. Ocasiao ist eine von Meireles komplexesten Installationen und wirft herausfordernde Fragen auf, wie die nach der Natur des Wertes und seinen ideologischen Implikationen, nach dem Nutzen von Überwachung und dem Hervorbringen verschiedener und widersprüchlicher Seiten des Individuums. Die Arbeit ist eine Inszenierung, in der die Betrachterinnen und Betrachter zu aktiven Teilnehmern werden, ob sie es wollen oder nicht.
Im Gegensatz zu Ocasiao, die rezeptionsästhetisch ziemlich direkt funktioniert, entwickelt Fio (Thread/Faden) von 1990/2004 seine Wirkung verhaltener, wenngleich neben dem Sehsinn über die Hauballen auch der Geruchsinn angesprochen wird.
Fio (Thread), 1990/2004
Ähnlich wie bei Cruzeiro do Sul greift Cildo Meireles auch bei Fio die für die Minimal Art charakteristische Form des rechteckigen Kubus auf. Jedoch verwendet er bewusst ein sogenanntes armes Material, indem er 48 Heuballen zu einem Rechteck vereint. Dieses kombiniert er mit einem der kostbarsten Metalle, nämlich Gold. Im Heuhaufen, der durch einen goldenen Draht durchzogen bzw. umspannt wird, hat der Künstler eine Nadel aus 18 Karat Gold versteckt. Auch hier interessieren ihn wieder verschiedene Wertvorstellungen, sowie die visuell nicht deutlich zu unterscheidende Farbigkeit des Heus und der Goldnadel. Gleichzeitig findet er ein humorvolles Bild für die sprichwörtliche "Nadel im Heuhaufen." Nicht nur die unübersichtlichen gesellschaftlichen Verhältnisse klingen hier an, auch die Beziehung des einzelnen zum großen Ganzen, des Individuums zur Gesellschaft.
La Bruja, 1979-89/2004
Cildo Meireles: "Ich habe das Werk zum ersten Mal 1981 auf der Biennale von São Paulo gezeigt, und zwar mit 2.500 Kilometern Schnur, die sich über drei Stockwerke des Gebäudes erstreckten. Der Besen ist zweideutig, man kann ihn als den Anfang, den Ursprung einer riesigen Ausdehnung oder als den Endpunkt der Kontraktion, der Kompression sehen. Und ein weiteres Paradoxon besteht darin, dass der Besen nicht aufräumt, sondern eine Art chaotisches Durcheinander erzeugt. In São Paulo waren die Mitarbeiter der Biennale sehr frustriert, weil sie das Gelände nicht aufräumen konnten! Ich mochte die Art und Weise, wie sie im Kunstverein in Hamburg installiert wurde, sehr. Man konnte mit dem riesigen, völlig dunklen Gewirr beginnen und zum Besen geführt werden, oder man beginnt mit dem Besen und betritt dieses dunkle, schwarze Chaos."
La Bruja (The Witch / Die Hexe) Oft ist die große Installation so präsentiert, dass man zuerst auf einige wenige dunkle Wollfäden stößt. Folgt man ihnen wird der Strom der Fäden immer dichter und schier unübersichtlich. Erst beim Entdecken des Ursprungs dieses Fadenchaos macht alles Sinn und eine scheinbare Ordnung macht die gesamte Installation nachvollziehbar. Denn alle Fäden münden in einem Besen, der lapidar vom Künstler gegen eine Wand gelehnt, oft in der hinteren Ecke eines Raumes steht. In Hamburg hatte Cildo Meireles das erste Mal die Fäden auch an die Decke geführt und so über die ästhetische und gesellschaftliche Dimension auch einen kunsthistorischen Verweis eingeführt. Erinnert sein Geflecht aus Fäden im Raum doch frappant an den Beitrag "16 Miles of String" von Marcel Duchamp, mit dem dieser 1942 die zusammen mit André Breton in New York organisierte Ausstellung "First Papers of Surrealism" versah. Duchamp rahmte gleichermaßen die dort gezeigten Werke, wie er auch ihre eigentliche Rezeption erschwerte. Die Installation von Cildo Meireles beginnt oder endet mit einem Objekt, das für Ordnung und Sauberkeit steht. Im Gegensatz hierzu erzeugt der scheinbar endlose Strom der Fäden, die aus dem Schaft quellen und fast den gesamten Ausstellungsraum bedecken, Unordnung und Verwirrung. Hierzu passt hervorragend der Titel der Arbeit La Bruja, was so viel wie Hexe bedeutet.
Zum Abschluss zeige ich ihnen eine meiner Lieblingsarbeiten von Cildo Meireles:
Atlas, 1995/2006
Atlas besteht aus einer auf einen Leuchtkasten montierten Fotografie, die eine Performance von Meireles im Herning Park in Dänemark zeigt. Man sieht den Künstler einen Kopfstand auf dem "Socle du Monde (Base of the World / Sockel der Welt)" machen. Für seine ortsspezifische Installation hatte der italienische Konzeptkünstlers Piero Manzoni 1961 seinen "Socle du Monde", seinen "Weltsockel", einen Bronzekubus mit einer um 180 Grad gedrehten Beschriftung versehen. - so, dass man sich auf den Kopf stellen muss, um sie zu lesen und dabei die ganze Welt auf dem Sockel sieht. Durch die Aktion von Cildo Meireles sieht es nun so aus als stützte der brasilianische Künstler nicht nur den schweren Sockel, sondern gleich die ganze Welt.
Allein die spielerische Leichtigkeit mit der Cildo Meireles hier die westliche Weltsicht umkehrt und den sogenannten globalen Süden zur Stütze unserer Erde werden lässt, verdient besondere Würdigung. Dass es ihm darüber hinaus gelingt nun bereits seit über fünf Jahrzehnten die Kunstgeschichte gesellschaftlich wirksam und ästhetische beeindruckend in die Jetztzeit zu überführen, mach ihn zu einer absolut herausragenden Position.
Congratulation, dear Cildo!
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